06 - Denn keiner ist ohne Schuld
wäre.«
»Wenn der Betreffende etwas gesucht oder mitgenommen hätte, ja. Andernfalls bin ich mir nicht sicher.«
»Aber ich bin mir völlig sicher.«
Mit ihrer Stiefelspitze grub sie ein Büschel Löwenzahn aus der Ritze zwischen zwei Pflastersteinen. Sie hob es auf, musterte einen Moment die Blätter und warf die Pflanze dann weg.
»Aber Sie haben den Übeltäter nie erwischt? Er - oder sie - war immer so leise, daß Sie nichts gemerkt haben? Ist auch nie versehentlich in Ihren Garten geraten?«
»Nein.«
»Sie haben nie ein Auto oder ein Motorrad gehört?«
»Nein.«
»Und Sie machen Ihre Runden jeden Abend, zu unterschiedlichen Zeiten, so daß jemand, der hier Unfug machen wollte, nicht vorhersagen könnte, wann er mit Ihrem Erscheinen zu rechnen hätte?«
Ungeduldig schob sie sich das Haar hinter die Ohren. »Ganz recht, Inspector. Darf ich fragen, was das mit der Sache mit Mr. Sage zu tun hat?«
Er lächelte freundlich. »Das weiß ich nicht genau.«
Sie sah zum Teich am Fuß des Hügels, ihre Absicht war klar. Aber er wollte noch nicht gehen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Ostflügel des Hauses. Die unteren Erkerfenster waren vernagelt. Zwei der oberen Scheiben hatten Sprünge.
»Das Haus steht wohl schon seit Jahren leer?«
»Es ist eigentlich nie bewohnt worden - abgesehen von drei Monaten kurz nach seiner Erbauung.«
»Und warum nicht?«
»Angeblich spukt es dort.«
»Und wer spukt da herum?«
»Die Schwägerin von Mr. Townley-Youngs Urgroßvater. In welchem Verhältnis steht sie also zu ihm? Sie ist seine Urgroßtante?«
Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Sie hat sich dort das Leben genommen. Alle glaubten, sie sei ausgegangen, um einen Spaziergang zu machen. Als sie am Abend immer noch nicht zurück war, begann man zu suchen. Erst nach fünf Tagen kam jemand auf den Gedanken, im Haus selbst zu suchen.«
»Und?«
»Sie hatte sich an einem Deckenbalken in der Gepäckkammer oben unterm Dach erhängt. Es war Sommer. Die Hausangestellten folgten dem Geruch.«
»Und ihr Mann wollte danach nicht mehr in dem Haus leben?«
»Ein romantischer Gedanke, aber er war bereits tot. Er war auf der Hochzeitsreise ums Leben gekommen. Es hieß, es sei ein Jagdunfall gewesen, aber niemand wollte sich näher darüber auslassen, wie es dazu gekommen war. Seine Frau kehrte allein zurück, das glaubte man jedenfalls. Man wußte zunächst nicht, daß sie die Syphilis mitgebracht hatte, sein Hochzeitsgeschenk an sie anscheinend.«
Sie lächelte ohne Erheiterung, sah jedoch dabei nicht ihn an, sondern hielt den Blick auf das Haus gerichtet. »Es heißt, daß sie nun weinend im oberen Korridor herumgeistert. Die Townley-Youngs möchten gern glauben, aus Trauer um den verschiedenen Mann. Ich glaube eher aus Bedauern darüber, daß sie diesen Mann überhaupt geheiratet hat. Es war schließlich 1853. Da gab es noch keine Heilverfahren.«
»Für die Syphilis.«
»Und auch nicht für die Ehe.«
Sie schlug den Weg zum Weiher ein. Lynley sah ihr einen Moment nach. Trotz ihrer schweren Stiefel machte sie große Schritte. Ihr Haar hob sich im Luftzug ihrer Bewegung und fiel ihr grau schimmernd aus dem Gesicht zurück.
Er folgte ihr. Der Hang war eisig, das Gras darauf längst von Ginster und Farn zurückgedrängt. An seinem Fuß lag der nierenförmige Weiher, zugewachsen und verwildert, mit trübem Wasser, das im Sommer zweifellos eine Brutstätte nicht nur für Insekten, sondern auch für Krankheiten war. Schilf und braunes Unkraut standen hüfthoch. Dornen hängten sich in Juliet Spences Kleider, aber sie schien es gar nicht zu bemerken. Sie ging mitten durch das Gestrüpp und schob alles, was sie festhalten wollte, einfach beiseite. Etwa einen Meter vom Wasser entfernt blieb sie endlich stehen. »Hier«, sagte sie.
Soweit Lynley sehen konnte, waren die Pflanzen, auf die sie zeigte, vom Rest der Vegetation rundherum nicht zu unterscheiden. Im Frühling oder Sommer waren Blumen oder Früchte vielleicht besser zu erkennen. Doch das Schilf veränderte sich kaum mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Lynley konnte dem Ganzen offensichtlich nicht viel abgewinnen.
Juliet sah das offenbar, denn sie erklärte: »Es ist natürlich wichtig, sich, wenn die Pflanze grün ist, ihren Standort zu merken, Inspector. Die Wurzeln bleiben ja in der Erde, auch wenn Stengel, Blätter und Blüten längst verdorrt sind.«
Sie wies nach links zu einem ovalen Fleckchen Erde, wo aus einem Teppich welken Laubs ein spindeldürrer
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