06 - Denn keiner ist ohne Schuld
an dem er starb?«
Die Frage kam zu prompt. Sie zwinkerte ein paarmal hastig und sagte: »Mama hat nichts getan. Meine Mama würde niemals jemandem etwas Böses tun.«
»Hatte sie ihn an dem fraglichen Abend zum Essen eingeladen, Maggie?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Sie hat nichts davon gesagt.«
»Sie hat ihn nicht eingeladen?«
»Sie hat nicht gesagt, daß sie ihn eingeladen hatte.«
»Aber sie hat dir gesagt, daß er kommen würde.«
Maggie zögerte. Er sah, wie sie überlegte, den Kopf gesenkt, die Augen niedergeschlagen. Er brauchte die Antwort nicht mehr.
»Woher hast du gewußt, daß er kam, wenn sie es dir nicht gesagt hat?«
»Er hat angerufen. Ich hab's gehört.«
»Was?« »Es ging um die Jugendgruppe und um die Weihnachtsfeier, wie ich schon gesagt hab. Meine Mutter war ärgerlich, ›Ich beabsichtige nicht, es ihr zu erlauben. Es hat keinen Sinn, weiter darüber zu diskutieren.‹ Das hat sie gesagt. Dann hat er etwas gesagt. Er hat lange geredet. Und schließlich hat sie gesagt, er könnte ja zum Essen kommen, und dann könnten sie noch einmal alles besprechen. Aber ich hab nicht geglaubt, daß sie sich's noch einmal anders überlegen würde.«
»Und er kam am selben Abend?«
»Mr. Sage hat immer gesagt, man dürfte die Flinte nicht gleich ins Korn werfen.«
Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Oder so was Ähnliches. Jedenfalls hat er's nie einfach akzeptiert, wenn jemand nein gesagt hat. Er meinte, einmal nein ist nicht immer nein. Er hat gewußt, daß ich gern zu der Jugendgruppe wollte. Er fand es wichtig, daß ich mitmache.«
»Wer leitet die Gruppe?«
»Niemand. Jetzt, wo Mr. Sage tot ist.«
»Und wer war dabei?«
»Pam und Josie. Mädchen aus dem Dorf. Ein paar von den Bauernhöfen.«
»Keine Jungen?«
»Nur zwei.«
Sie krauste die Nase. »Die Jungs fanden, die Jugendgruppe wäre Pipikram. ›Aber sie werden schon noch kommen‹, sagte Mr. Sage. ›Wir setzen uns zusammen, und dann machen wir einen Plan.‹ Das war auch einer der Gründe, warum er mich in der Gruppe haben wollte, wissen Sie.«
»Damit ihr euch zusammensetzen konntet?« fragte Lynley mit Unschuldsmiene.
Sie reagierte nicht. »Damit Nick auch kommen würde. Weil nämlich, wenn Nick gekommen wäre, dann wären die andern auch alle gekommen. Und das hat Mr. Sage gewußt. Mr. Sage hat alles gewußt.«
Regel Nummer eins: Man vertraue seiner Intuition.
Regel Nummer zwei: Man untermaure sie mit Fakten.
Regel Nummer drei: Man nehme eine Verhaftung vor.
Regel Nummer vier hatte etwas damit zu tun, wo ein Polizeibeamter sich Erleichterung verschaffen sollte, nachdem er zur Feier eines abgeschlossenen Falles vier Liter Bier in sich hineingekippt hatte, und Regel Nummer fünf bezog sich ausschließlich auf jene Unternehmung, die als Form der Feier empfohlen wurde, wenn es gelungen war, den Schuldigen der Gerechtigkeit zuzuführen. Inspector Angus Mac-Pherson hatte diese Regeln, auf grelles pinkfarbenes Papier gedruckt und mit passenden Illustrationen versehen, eines Tages bei einer Teambesprechung in New Scotland Yard verteilt, und wenn auch Regel Nummer vier und fünf mit Gelächter und zotigen Bemerkungen aufgenommen worden waren, so hatte es Lynley doch für wert befunden, sich die ersten drei in einem müßigen Augenblick, während er am Telefon wartete, auszuschneiden. Er benutzte sie als Lesezeichen und betrachtete sie als Ergänzung zu den Judge's Rules, den Verfahrensregeln bezüglich der Zulässigkeit der Aussage eines Angeklagten als Beweismittel.
Die Vermutung, daß Maggie in den Geschehnissen um Robin Sages Tod eine zentrale Rolle spielte, hatte ihn in die höhere Schule nach Clitheroe geführt. Nichts, was sie während ihres Gesprächs gesagt hatte, hatte an seiner Überzeugung etwas geändert.
Ein einsamer Mann mittleren Alters und ein junges Mädchen an der Schwelle zum Frausein, das war eine brisante Kombination, mochte auch der Mann allem Anschein nach noch so rechtschaffen sein, das Mädchen noch so naiv. Lynley wußte, daß es ihn überhaupt nicht wundern würde, wenn sich bei näherer Betrachtung der Hintergründe von Robin Sages Tod die Geschichte der Verführung eines Kindes zeigen würde. Es wäre nicht das erste Mal, daß Mißbrauch mit Freundschaft und frommem Getue bemäntelt wurde. Und gewiß auch nicht das letzte Mal. Eben daß man sich hier an einem Kind vergehen konnte, war Teil der heimtückischen Verlockung. Und da in diesem Fall das Kind ja bereits intime sexuelle
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