06 - Denn keiner ist ohne Schuld
zusammentrieb und verdichtete, konnte er noch immer flotte Marschmusik hören.
Jeder, der sich die Mühe machte, zum Cotes Fell hinaufzusteigen, konnte sich über das Kommen und Gehen im Herrenhaus und im Verwalterhäuschen genau informieren. Man brauchte es nicht einmal zu riskieren, unbefugt den Grund und Boden der Familie Townley-Young zu betreten. Der Weg zum Gipfel war ein öffentlicher Fußweg. Der Anstieg war gelegentlich steil - besonders das letzte Stück oberhalb des Great North -, aber für jemanden, der in Lancashire geboren und aufgewachsen war, kein Problem. Ganz sicher kein Problem für eine Frau, die die Wanderung regelmäßig machte.
Als Lynley sein Monstrum von einem Auto rückwärts aus dem Hof hinausmanövriert hatte, um die Rückfahrt durch die Schlaglöcher und den Schlamm anzutreten, wandte sich Colin ab und ging hinüber zu dem Felsvorsprung. Er hockte sich in seinem Schatten nieder, fegte mit der Hand nachdenklich ein Häufchen Scherben und Kiesel auf und ließ sie durch die Finger rieseln. Leo kam angetrottet, rannte schnuppernd und witternd um den Fels herum und trat dabei einiges Geröll los. Colin zog einen alten Tennisball aus seiner Jackentasche, hielt ihn Leo unter die Nase, schleuderte ihn in den Nebel hinaus und sah zu, wie der Hund ausgelassen hinterherrannte. Er wußte genau, was er zu tun hatte, und tat es ganz selbstverständlich, ohne Schwierigkeiten.
Nicht weit von dem Felsvorsprung entfernt konnte Colin eine schmale, erdfarbene Schneise im Gras erkennen. Es war eine kreisförmige Schneise von knapp drei Metern Durchmesser, deren Rund von Steinen markiert war, die in gleichmäßigen Abständen von vielleicht fünfzehn Zentimetern angeordnet waren. In der Mitte des Kreises lag ein ovaler Granit, und Colin brauchte gar nicht hinzugehen und ihn sich anzusehen, um zu wissen, daß er darauf getrocknete Wachsreste finden würde, Kratzer von einer Kohlenpfanne und, deutlich eingemeißelt, das Bild eines fünfzackigen Sterns.
Alle im Dorf wußten, daß der Gipfel von Cotes Fell ein heiliger Ort war. Er wurde bewacht vom Great North, von dem es lange geheißen hatte, er besäße übersinnliche Kräfte und könnte Fragen beantworten, wenn man nur mit reinem Herzen und offenem Geist fragte und hinhörte. Die bauchige Wölbung des Felsvorsprungs sahen einige als ein Fruchtbarkeitssymbol an, den Leib einer Mutter, der von neuem Leben aufgeschwollen war. Und die Granitformation, die aussah wie eine Kreuzblume - einem Altar so ähnlich, daß man es nicht leicht ignorieren konnte -, war schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts als geologische Besonderheit eingestuft worden. Der Gipfel von Cotes Fell war also ein heiliger Ort der Vorzeit, wo sich die alten Bräuche gehalten hatten.
Solange Colin denken konnte, übten die Yarkins den alten Kult aus und huldigten der Göttin. Sie hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht. Sie widmeten sich den Gesängen und Ritualen, den Zauber- und Beschwörungsformeln mit einer Hingabe, die ihnen, wenn auch nicht Respekt, so doch einen höheren Grad an Toleranz eingebracht hatte, als man ihn normalerweise von den Leuten auf dem Land erwarten konnte. Das abgeschottete Leben bildete hier häufig einen konservativen Nährboden, auf dem die alten Werte, wie Gott, König und Vaterland, gediehen. Doch in Zeiten der Bedrängnis wandte man sich mit seiner Fürbitte an die Gottheit, die einem am einflußreichsten zu sein schien. Wenn also ein geliebtes Kind erkrankte, eine Seuche die Schafe eines Bauern dahinzuraffen drohte, ein junger Mann als Soldat nach Nordirland versetzt werden sollte, lehnte keiner je Rita oder Polly Yarkins Angebot ab. Wer konnte schließlich wissen, welche Gottheit am Ende zuhörte? Warum nicht auf Nummer sicher gehen, für alle Eventualitäten Vorsorgen und das Beste hoffen?
Colin selbst war da keine Ausnahme. Mehrmals hatte er Polly um Annies willen den Berg hinaufsteigen lassen. Sie hatte ein goldenes Gewand angehabt und in einem Korb Lorbeerzweige mit sich getragen, die sie zusammen mit Gewürznelken zu Weihrauch verbrannte. In Buchstaben, die er nicht lesen konnte und die er im Grunde für eine Spielerei hielt, ritzte sie seine Bitte in eine dicke orangefarbene Kerze und ließ diese herunterbrennen, während sie um ein Wunder bat. Alles, erklärte sie ihm, sei möglich, wenn das Herz der Hexe rein sei. Hatte nicht Nick Wares Mutter endlich doch den ersehnten Jungen zur Welt gebracht, und das trotz ihrer neunundvierzig Jahre? Hatte
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