06 - Denn keiner ist ohne Schuld
gäbe war, fiel es ihm schwer zu glauben, daß dieses Mädchen irgendwelche sexuelle Erfahrung hatte.
Sie sah aus wie ein Kind. Zum Teil lag es an ihrer Größe. Sie war höchstens knapp über einen Meter fünfzig. Zum Teil lag es an ihrer Haltung und ihrem Verhalten. Sie stand mit leicht einwärts gedrehten Füßen; ihre dunkelblauen Strümpfe schlugen an den Knöcheln Falten; sie wackelte hin und her und kippte dabei ihre Füße auf die Außenkanten; sie sah aus, als erwarte sie, mit dem Rohrstock verhauen zu werden. Und es lag an ihrer äußeren Erscheinung: Möglich, daß die Schulvorschriften Schminke verboten, aber es gab doch sicherlich nichts, was sie daran hinderte, sich das Haar etwas schicker herzurichten. Sie hatte dasselbe kräftige Haar wie ihre Mutter, und es fiel ihr voll und wellig bis zu den Hüften herunter. Eine große bernsteinfarbene Spange in Form einer Schleife hielt es ihr aus dem Gesicht. Sie trug keinen Pagenkopf, keinen Stufenschnitt, keinen raffinierten französischen Zopf. Sie machte keinen Versuch, irgendeine Schauspielerin oder Popsängerin nachzuahmen.
»Hallo«, sagte er zu ihr und merkte, daß er einen so behutsamen Ton anschlug, als hätte er ein verschrecktes Kätzchen vor sich. »Hat Mrs. Crone dir gesagt, wer ich bin, Maggie?«
»Ja. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Ich wußte es schon.«
Ihre Arme bewegten sich. Sie schien auf dem Rücken die Hände zu ringen. »Nick hat gestern abend gesagt, daß Sie gekommen sind. Er hat Sie im Pub gesehen. Er hat gesagt, Sie würden mit allen guten Freunden von Mr. Sage reden wollen.«
»Und du bist einer von ihnen, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Es ist schlimm, wenn man einen Freund verliert.«
Sie antwortete nicht, kippte nur wieder auf ihren Füßen hin und her. Hierin hatte sie Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Lynley mußte daran denken, wie Juliet Spence auf der Terrasse mit der Stiefelspitze in den Boden gestoßen hatte.
»Komm«, sagte er. »Setz dich zu mir.«
Er zog einen zweiten Sessel zum Fenster, und als sie sich gesetzt hatte, sah sie ihn endlich an. Mit ihren himmelblauen Augen betrachtete sie ihn offen, mit etwas zaghafter Neugier, ganz ohne Verstellung. Sie lutschte an der Innenseite ihrer Unterlippe. Dabei entstand in ihrer Wange ein Grübchen.
Jetzt, da sie ihm näher war, konnte er schon eher die knospende Frau entdecken, die bald die Hülle des Kindes abwerfen würde. Sie hatte einen vollippigen Mund. Sie hatte einen vollen Busen. Ihre Hüften waren breit genug, um einladend zu wirken. Sie hatte einen üppigen Körper und würde später wahrscheinlich immer mit ihrem Gewicht zu kämpfen haben. Jetzt jedoch wirkte der Körper unter der braven Schuluniform reif und voller Erwartung. Wenn es Juliet Spence war, die darauf bestand, daß Maggie sich nicht schminkte und ihr Haar wie eine Zehnjährige trug, so konnte man es ihr, fand Lynley, nicht verübeln.
»Du warst an dem Abend, an dem Mr. Sage gestorben ist, nicht zu Hause, nicht wahr?« fragte er sie.
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber tagsüber warst du da?«
»Ab und an, ja. Es waren Weihnachtsferien, wissen Sie.«
»Du wolltest nicht zusammen mit Mr. Sage essen? Er war doch dein Freund. Es wundert mich, daß du die Gelegenheit nicht wahrgenommen hast.«
Ihre linke Hand bedeckte die rechte. Sie hielt die Hände zusammengeballt im Schoß. »Es war unser Rundumschlafabend«, sagte sie. »Von Josie, Pam und mir. Einmal im Monat übernachten zwei von uns bei der dritten.«
»Und ihr wechselt euch ab?«
»Ja, es geht in alphabetischer Reihenfolge. Josie, Maggie, Pam. An dem Tag war gerade Josie an der Reihe. Bei ihr ist es immer am lustigsten, weil wir uns da ein Zimmer aussuchen dürfen, wenn das Hotel nicht voll ist. An dem Abend haben wir das Zimmer ganz oben genommen, das mit den Oberlichtern. Es hat geschneit, und wir haben zugesehen, wie der Schnee auf dem Glas liegengeblieben ist.«
Sie saß sehr gerade, die Beine an den Knöcheln gekreuzt, wie es sich für ein wohlerzogenes Mädchen gehörte. Feine Strähnen rotbraunen Haars, die der Spange entronnen waren, ringelten sich an ihren Wangen und ihrer Stirn. »Bei Pam übernachten macht am wenigsten Spaß, weil wir da immer im Wohnzimmer schlafen müssen. Wegen ihren Brüdern. Die haben ihr Zimmer oben. Es sind Zwillinge. Pam mag sie nicht besonders. Sie findet es eklig, daß ihre Mutter und ihr Vater noch mal Babys gemacht haben, obwohl sie schon so alt sind. Sie sind zweiundvierzig. Pams Mutter und
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