06 - Denn keiner ist ohne Schuld
kam, ließ darauf schließen, daß es an der Amtsführung Mr. Sages irgend etwas auszusetzen gab.«
Diese Art nichtssagender Bemerkungen nach dem Motto »Nichts hören, nichts sehen und niemand auf die Zehen treten« waren dem Sekretär auf der politisch religiösen Ebene, auf der er tätig war, sicherlich dienlich. St. James hatte gar nichts davon.
»Und Mr. Sage selbst?« fragte St. James.
Der Sekretär fuhr sich mit der Zunge über seine vorstehenden Zähne und zupfte einen kleinen Fussel vom Revers seines schwarzen Jacketts. »Bitte?«
»Gab es an Mr. Sage selbst etwas auszusetzen?«
»Soweit es die Gemeinde betraf und soweit ich dank meiner Anwesenheit bei der Leichenschau in Erfahrung bringen konnte...«
»Ich meine, in Ihren Augen. Gab es an ihm etwas auszusetzen? Sie haben ihn doch sicher gekannt und nicht nur bei der Leichenschau von ihm gehört.«
»Keiner von uns ist vollkommen«, antwortete der Sekretär gouvernantenhaft.
»Wissen Sie, aus der Luft gegriffene Mutmaßungen sind bei der Untersuchung eines ungewöhnlichen Todesfalls keine Hilfe«, sagte St. James.
Der Hals des Sekretärs schien um einiges länger zu werden, als er den Kopf hob. »Wenn Sie sich mehr erhoffen - vielleicht etwas Nachteiliges -, muß ich Ihnen sagen, daß ich nicht die Angewohnheit habe, über geistliche Kollegen zu Gericht zu sitzen.«
Der Bischof lachte. »Was reden Sie für einen Blödsinn, Dominic. Die meisten Tage sitzen Sie zu Gericht wie der heilige Petrus persönlich. Sagen Sie dem Mann, was Sie wissen.«
»Hochwürden...«
»Dominic, Sie klatschen doch wie ein zehnjähriges Schulmädchen. Das war immer schon so. Hören Sie auf mit Ihrer Doppelzüngigkeit, sonst muß ich noch von dieser verflixten Maschine heruntersteigen und Ihnen eine kräftige Ohrfeige geben. Verzeihen Sie, gnädige Frau«, sagte er zu Deborah gewandt, die lächelte.
Der Sekretär machte ein Gesicht, als röche er etwas Unangenehmes und habe soeben den Befehl erhalten, so zu tun, als handelte es sich um Rosenduft. »Also gut«, sagte er. »Ich fand immer, Mr. Sage habe eine ziemlich eingeengte Betrachtungsweise. Sein einziger Bezugspunkt war die Bibel.«
»Ich würde das bei einem Geistlichen nicht als Beschränkung empfinden«, meinte St. James.
»Aber es ist eine Beschränkung, eine sehr schwerwiegende sogar für einen Geistlichen im Gemeindedienst. Eine strenge Auslegung der Bibel und ein striktes Festhalten an ihrem Wort kann absolut blind machen, ganz zu schweigen davon, daß dadurch gerade die Gemeinde, die man zu vergrößern sucht, abgeschreckt wird. Wir sind keine Puritaner, Mr. St. James. Wir wettern nicht mehr von der Kanzel. Wir fördern nicht religiöse Hingabe, die auf Furcht basiert.«
»Nichts, was wir über Sage gehört haben, gibt Anlaß zu glauben, daß er das getan hat.«
»In Winslough vielleicht noch nicht. Aber bei unserem letzten Zusammentreffen mit ihm hier in Bradford war klar ersichtlich, welche Richtung er einzuschlagen gedachte. Über dem Mann zog sich ein regelrechtes Gewitter zusammen. Man spürte, daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis es zum Ausbruch kommen würde.«
»Ein Gewitter? Sie meinen Ärger zwischen Sage und der Gemeinde? Oder mit einem Gemeindemitglied? Wissen Sie da etwas Bestimmtes?«
»Obwohl er jahrelang im Amt war, begriff er die konkreten Probleme seiner Gemeindemitglieder oder auch anderer nicht in ihrem wesentlichen Kern. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Etwa einen Monat vor seinem Tod nahm er an einer Konferenz über Ehe und Familie teil, und während ein Psychologe sich bemühte, unseren Brüdern eine Anleitung zu geben, wie sie mit Gemeindemitgliedern, die eheliche Schwierigkeiten hatten, umgehen sollten, wollte Mr. Sage unbedingt eine Diskussion über die Frau führen, die im Ehebruch ergriffen wurde.«
»Die Frau...?«
»Johannes, Kapitel acht«, sagte der Bischof. »›Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, im Ehebruch ergriffen...‹ und so weiter, und so weiter. Sie kennen die Geschichte. ›Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.‹«
Der Sekretär berichtete weiter, als hätte der Bischof gar nicht gesprochen. »Wir waren mitten in der Diskussion darüber, wie man am besten einem Paar helfen kann, das nicht mehr vernünftig und offen miteinander sprechen kann, weil einer den anderen beherrschen will, und Sage wollte die Frage erörtern, was recht und was moralisch vertretbar sei. Aufgrund der Gesetze der Hebräer
Weitere Kostenlose Bücher