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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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voraus. Beim Porträt waren beide Parteien gezwungen, aus sich herauszugehen. Man fotografierte einen Körper, aber wenn man gut war, fing man die Persönlichkeit in ihm ein. Dabei spiele sich Leben ab, erklärte sie St. James, sich auf die Gefühle und den Geist des Modells einzulassen, sein Vertrauen zu gewinnen, ihn wahrhaftig einzufangen.
    St. James, der ein wenig zu Zynismus neigte, hätte kein Geld darauf gewettet, daß die meisten Menschen hinter ihrer äußeren Persona »Wahrhaftiges« zu bieten hatten. Aber er war froh und glücklich, an Deborahs Überlegungen Anteil zu haben. Als sie angefangen hatte zu sprechen, hatte er zunächst versucht, an Worten, Ton und Ausdruck zu erkennen, ob sie vielleicht den Kern des Themas umgehen wollte.
    Sie war am vergangenen Abend verstimmt und erregt gewesen, weil er in ihre Domäne eingedrungen war. Sie würde bestimmt nicht eine Wiederholung dieser Situation wollen. Doch je mehr sie sprach - diese Möglichkeit erwog und jene verwarf, ihre eigenen Motive auszuloten versuchte -, desto ruhiger wurde er. Deborah strahlte eine Energie aus, wie er sie in den letzten zehn Monaten bei ihr nicht erlebt hatte. Ganz gleich, aus welchen Gründen sie diese Ausführungen über ihre berufliche Zukunft begonnen hatte, die Stimmung, die sie herbeizuführen schienen, war weit positiver als ihre Depression vorher. Als sie darum ihr Stativ mit der Hasselblad aufstellte und sagte: »Jetzt ist das Licht gerade gut«, und ihn bat, ihr im verlassenen Biergarten des Crofters Inn Modell zu sitzen, damit sie sich an ihm gleich mit einigen Porträtaufnahmen versuchen konnte, ließ er sich von ihr trotz der Kälte über eine Stunde lang aus sämtlichen erdenklichen Perspektiven auf die Platte bannen.
    »Verstehst du, ich möchte nicht diese üblichen Atelierporträts machen. Ich meine, ich habe überhaupt keine Lust, daß die Leute zu mir kommen, um für das Hochzeitstagsfoto oder so was Modell zu sitzen. Ich hätte nichts dagegen, vielleicht mal irgendwas Besonderes zu machen, aber hauptsächlich, glaube ich, möchte ich auf der Straße und an öffentlichen Plätzen arbeiten. Ich möchte ganz einfach interessante Gesichter finden und sich dann alles von selbst entwickeln lassen«, erklärte sie gerade, als Ben Wragg an der Hintertür des Pubs erschien und ihnen zurief, Inspector Lynley wolle Mr. St. James sprechen.
    Das Ergebnis dieses Telefongesprächs - bei dem Lynley sich die Seele aus dem Leib schreien mußte, weil irgendwo in seiner Nachbarschaft Straßenarbeiten stattfanden, die kleinere Sprengungen notwendig machten - war eine Fahrt nach Bradford.
    »Wir suchen nach einer Verbindung zwischen ihnen«, hatte Lynley gesagt. »Vielleicht kann der Bischof sie uns liefern.«
    »Und du?«
    »Ich habe eine Verabredung beim CID Clitheroe. Danach in der Pathologie. Das ist zwar hauptsächlich Formalität, aber es muß getan werden.«
    »Du hast mit Mrs. Spence gesprochen?«
    »Ja, und auch mit der Tochter.«
    »Und?«
    »Ich weiß nicht. Mir ist nicht wohl bei der ganzen Sache. Ich habe kaum einen Zweifel daran, daß die Spence es getan hat und auch genau wußte, was sie tat. Ich habe allerdings erhebliche Zweifel daran, daß es sich um einen Mord konventioneller Art handelt. Wir müssen mehr über Sage in Erfahrung bringen. Wir müssen herausbekommen, warum er aus Cornwall weggegangen ist.«
    »Verfolgst du eine bestimmte Spur?«
    Er hörte Lynley seufzen. »In diesem Fall hoffe ich nicht, St.
    James.«
    So fuhren sie also, nachdem sie sich telefonisch angemeldet hatten, in ihrem Mietwagen an Pendle Hill vorbei die nicht unbeträchtliche Strecke bis nach Bradford, nördlich des Keighley Moors.
    Im Amtssitz des Bischofs von Bradford, nicht weit von der Kathedrale aus dem fünfzehnten Jahrhundert entfernt, empfing sie der Sekretär des hohen Herrn. Er war ein junger Mann mit großen vorstehenden Zähnen, der einen in rostbraunes Leder gebundenen Terminkalender mit sich herumtrug, in dessen goldgeränderten Seiten er ständig blätterte, als wollte er sie daran erinnern, wie kostbar die Zeit des Bischofs sei und wie glücklich sie sich preisen könnten, daß er ihnen eine halbe Stunde davon gönnte. Er führte sie nicht in ein Büro oder Konferenzzimmer, sondern durch holzgetäfelte Gänge zu einer Hintertreppe, die in einen kleinen Fitneßraum mit Spiegelwand führte. Darin warteten ein Übungsfahrrad, eine Rudermaschine, irgendein komplizierter Aufbau zum Bodybuilding mit Gewichten und Robert

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