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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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könnte sagen, daß er sich carpe diem zum persönlichen Motto gemacht hatte.«
    »Das klingt aber gar nicht nach dem Mann aus Winslough«, murmelte Deborah.
    Glennaven nickte. »Er machte sich Michael unentbehrlich. Er saß in allen möglichen Ausschüssen, war politisch tätig...«
    »Im Rahmen dessen, was die Kirche guthieß«, warf der Sekretär ein.
    »... las an verschiedenen Universitäten. Durch seine Initiative wurden Tausende von Pfund für die Instandhaltung der Kathedrale und für die örtlichen Kirchen gesammelt. Er besaß die Fähigkeit, sich ohne Anstrengung oder Verlegenheit in jedem gesellschaftlichen Umfeld zu bewegen.«
    »Der reinste Wunderknabe«, bemerkte der Sekretär mit saurer Miene.
    »Merkwürdig, sich vorzustellen, daß einen solchen Mann plötzlich das Leben eines Dorfpfarrers locken sollte«, sagte St. James.
    »Genau das dachte Michael auch. Er war unglücklich darüber, ihn zu verlieren, aber er ließ ihn gehen. Es war Sages eigene Bitte. Seine erste Pfarrei war Boscastle.«
    »Wieso Boscastle?«
    Der Bischof wischte sich die Hände am Handtuch ab und faltete es. »Vielleicht war er da im Urlaub mal gewesen.«
    »Aber wieso dieser plötzliche Umschwung? Wieso der Wunsch, Macht und Einfluß aufzugeben, um irgendwo in der Versenkung zu verschwinden? Das ist doch nicht die Norm. Selbst für einen Geistlichen nicht, denke ich.«
    »Er hatte kurz zuvor offenbar sein eigenes Damaskus erlebt. Er hatte seine Frau verloren.«
    »Seine Frau?«
    »Sie kam bei einem Bootsunfall ums Leben. Michael sagte, er sei danach nie wieder der alte geworden. Er betrachtete ihren Tod als eine Strafe Gottes für seine weltlichen Interessen und beschloß, sie aufzugeben.«
    St. James sah zu Deborah hinüber. Er sah ihr an, daß sie das gleiche dachte wie er. Sie hatten sich von unvollständigen Informationen zu voreiligen Vermutungen verleiten lassen. Sie hatten angenommen, Robin Sage sei nicht verheiratet gewesen, weil niemand in Winslough eine Ehefrau erwähnt hatte. Deborahs nachdenklichem Gesicht sah er an, daß sie in Gedanken bei jenem Tag im November war, als sie mit dem Mann gesprochen hatte.
    »Sein Streben nach Erfolg wurde also von dem Bestreben abgelöst, irgendwie für die Vergangenheit Wiedergutmachung zu leisten«, sagte St. James zum Bischof.
    »Das Problem war nur, daß sich letzteres nicht so leicht in die Tat umsetzen ließ. Er wechselte neunmal den Posten.«
    »In welcher Zeit?«
    Der Bischof sah seinen Sekretär an. »In etwa zehn bis fünfzehn Jahren, nicht wahr?«
    Der Sekretär nickte.
    »Und nirgends kam er an? Ein Mann mit seinen Talenten?«
    »Wie ich schon sagte, dieses Bestreben um Wiedergutmachung ließ sich nicht gut umsetzen. Er wurde zu dem religiösen Eiferer, von dem wir vorhin sprachen, der mit größter Vehemenz gegen alles, von der abnehmenden Zahl der Kirchenbesucher bis zu dem, was er die Säkularisation der Geistlichkeit nannte, wetterte. Er lebte die Bergpredigt und war nicht bereit, Kollegen oder sogar Gemeindemitglieder zu akzeptieren, die es nicht ebenso hielten. Und um das Maß vollzumachen, war er auch noch felsenfest davon überzeugt, daß Gott seinen Willen durch das kundtat, was den Menschen in ihrem Leben zustößt. Das ist nun wirklich eine bittere Pille für jemanden, der gerade das Opfer einer sinnlosen Tragödie geworden ist.«
    »Was ja auch auf ihn selbst zutraf.«
    »Ja, aber er meinte, er habe es nicht anders verdient.«
    »›Ich war absolut egozentrisch‹, pflegte er zu sagen«, imitierte der Sekretär im Deklamationston. »›Nur mein eigenes Bedürfnis nach Ruhm war mir wichtig. Bis Gott eingriff, um mich zu verändern. Auch Sie können sich verändern.‹«
    »Leider waren seine Worte, so wahr sie auch gewesen sein mögen, kein Erfolgsrezept«, sagte der Bischof.
    »Und als Sie von seinem Tod hörten, dachten Sie da an eine Verbindung?«
    »Ich konnte nicht umhin, es in Betracht zu ziehen«, antwortete der Bischof. »Deshalb schickte ich meinen Sekretär zur Leichenschau.«
    »Der Mann war von Dämonen besessen«, sagte der Sekretär. »Und er kämpfte vor aller Augen gegen sie. Er konnte für seine eigenen weltlichen Neigungen nur büßen, indem er alle anderen für die ihren geißelte. Ist das ein Motiv zum Mord?«
    Er klappte den Terminkalender des Bischofs zu. Das Gespräch war beendet. »Ich denke, das kommt darauf an, wie man reagiert, wenn man sich einem Menschen gegenübersieht, der davon überzeugt zu sein scheint, daß sein Lebensstil der

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