06 - Denn keiner ist ohne Schuld
sei es moralisch gutgeheißen worden, diese Frau zu steinigen, erklärte er. Aber sei das damit auch recht gewesen? Und sollten wir bei unseren gemeinsamen Gesprächen nicht dieser Frage nachgehen, Brüder: dem Dilemma dessen, was in den Augen unserer Gesellschaft moralisch ist und was in den Augen Gottes recht ist? Es war der absolute Unsinn. Er war unfähig, über konkrete Dinge zu sprechen. Er meinte, wenn es ihm gelänge, uns die Köpfe mit Luft zu füllen und uns in nebulöse Diskussionen zu verwickeln, würden seine eigenen Schwächen als Priester - ganz zu schweigen von seinen menschlichen Mängeln - vielleicht nie ans Licht kommen.«
Zum Abschluß seiner Rede wedelte der Sekretär mit der Hand vor seinem Gesicht herum, als wollte er eine lästige Fliege verjagen. Dann schnalzte er spöttisch mit der Zunge. »Die Frau, die im Ehebruch ergriffen wurde. Sollen wir nun die armen Sünder auf dem Marktplatz steinigen oder nicht. Du lieber Gott. So ein Gewäsch. Wir leben schließlich im zwanzigsten Jahrhundert.«
»Dominic legt den Finger immer auf die offene Wunde«, warf der Bischof ein.
Der Sekretär machte ein pikiertes Gesicht.
»Sie stimmen mit Mr. Sages Beurteilung des Problems nicht überein?«
»Doch. Sie ist zutreffend. Traurig, aber wahr. Er war in seinem Eifer ausgesprochen bibelstreng. Und das ist, offen gesagt, abschreckend, selbst für Geistliche.«
Der Sekretär senkte zum Zeichen dafür, daß er sich der lakonischen Zustimmung des Bischofs unterwürfig anschloß, kurz den Kopf.
Glennaven trampelte weiter keuchend auf seiner Treppenmaschine, und die Schweißflecken auf T-Shirt und Trainingshose wurden immer größer. Die Maschine ratterte und summte. Der Bischof keuchte. St. James dachte darüber nach, wie merkwürdig Religion sein konnte.
Alle Formen des christlichen Glaubens entsprangen derselben Quelle, dem Leben und dem Wort des Nazareners. Doch die Arten, dieses Leben und dieses Wort zu feiern, schienen unendlich in ihrer Vielfalt. St. James konnte sich vorstellen, daß es über der Auslegung des Worts und der Art der Gottesverehrung zu hitzigen Meinungsverschiedenheiten und schwelendem Unmut kommen konnte, aber würde man einen Geistlichen, dessen Art von Frömmigkeit die Gemeindemitglieder irritierte, nicht eher auswechseln als eliminieren? St. John Townley-Young mochte Robin Sage in seiner Glaubensausübung allzu volksverbunden gefunden haben. Der Sekretär mochte ihn allzu fundamentalistisch gefunden haben. Die Gemeinde hatte vielleicht sein leidenschaftlicher Eifer gestört. Aber dies alles waren doch keine Gründe, den Mann zu ermorden. Die Wahrheit mußte woanders liegen. Religiöser Eifer war sicherlich nicht die Verbindung, die Lynley zwischen Mörder und Opfer aufzudecken hoffte.
»Soviel ich weiß, kam er aus Cornwall zu Ihnen«, bemerkte St. James.
»Das ist richtig.«
Der Bischof rubbelte sich mit dem Handtuch das Gesicht und tupfte sich den Schweiß vom Hals. »Er war fast zwanzig Jahre dort. Dann um die drei Monate hier. Ein Teil davon bei mir, während er zu den verschiedenen Vorstellungsgesprächen fuhr. Den Rest in Winslough.«
»Ist es üblich, daß ein Geistlicher sich während des Auswahlprozesses hier bei Ihnen aufhält?«
»Nein, das war ein Sonderfall«, antwortete Glennaven.
»Inwiefern?«
»Es war eine Gefälligkeit. Ludlow hatte darum gebeten.«
St. James runzelte die Stirn. »Die Stadt Ludlow?«
»Michael Ludlow«, erklärte der Sekretär. »Der Bischof von Truro. Er bat den Bischof, dafür zu sorgen, daß Mr. Sage.«
Er nahm sich ostentativ Zeit, um aus dem Spreu seiner Gedanken ein Weizenkorn des Euphemismus auszusondern. »Er war der Meinung, Mr. Sage brauchte Tapetenwechsel. Er glaubte, eine neue Umgebung würde seine Chancen auf Erfolg erhöhen.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß ein Bischof so persönlichen Anteil an der Arbeit eines einzelnen Geistlichen nimmt. Ist das normal?«
»Im Falle dieses Geistlichen, ja.«
An der Treppenmaschine ging ein Summer los. »Gott sei gepriesen«, seufzte Glennaven und griff nach einem Knopf, den er mit großem Enthusiasmus gegen den Uhrzeigersinn drehte. Er verringerte sein Tempo, um sich allmählich zu entspannen. Sein Atem wurde langsam wieder normal. »Robin Sage war ursprünglich Michael Ludlows Archidiakon, also sein Vertreter«, sagte er. »Er war innerhalb von sieben Jahren zu diesem Amt aufgestiegen. Er war erst zweiunddreißig, als er auf den Posten berufen wurde. Ein Erfolg ohnegleichen. Man
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