06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Rauch ein. »Der Bus ist sowieso weg.«
»Ich mein, in die Schule zurück. Morgen. Zum Unterricht. Ich geh da nicht hin. Nie wieder.«
Er sah sie schweigend an, während er sich das Haar aus dem Gesicht strich. »Ist es wegen dem Kerl aus London, Mag? Dem mit dem dicken Auto, der heute in der Schule war?«
»Ich weiß schon, du wirst gleich sagen, ich soll's einfach vergessen. Ich soll nicht auf die achten. Aber die hören bestimmt nicht auf. Ich geh da nicht wieder hin.«
»Warum denn? Es kann dir doch gleich sein, was diese Affen denken.«
Sie drehte den Riemen ihrer Schultasche um ihre Finger, bis sie sah, daß ihre Nägel blau anliefen.
»Wen interessiert das schon, was die sagen?« fragte er. »Du weißt, wie's wirklich ist. Und das ist die Hauptsache.«
Sie schloß die Augen vor der Wahrheit und preßte die Lippen aufeinander, um es nicht zu sagen. Sie fühlte, wie die Tränen unter ihren Lidern hervorquollen, und sie verachtete sich für das Schluchzen, das sie mit einem Hüsteln zu vertuschen suchte.
»Mag?« sagte er. »Du weißt doch, was wahr ist. Da kann es dir doch völlig egal sein, was diese Idioten in der Schule sagen. Was die sagen, zählt nicht. Was du weißt, zählt.«
»Aber ich weiß es ja nicht.«
Das Bekenntnis sprang ihr wie eine Übelkeit über die Lippen, die sie nicht länger zurückhalten konnte. »Ich weiß die Wahrheit nicht. Was sie... ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.«
Noch mehr Tränen flossen. Sie versteckte ihr Gesicht, indem sie den Kopf auf die Knie legte.
Nick pfiff leise durch die Zähne. »Das hast du vorher noch nie gesagt.«
»Immer zieh'n wir um. Alle zwei Jahre. Aber diesmal wollte ich unbedingt bleiben. Ich hab ihr versprochen, daß ich brav sein würde, daß sie stolz auf mich sein könnte, daß ich mir in der Schule Mühe geben würde. Wenn wir nur hierbleiben könnten. Nur das eine Mal. Und sie hat ja gesagt. Und dann hab ich den Pfarrer kennengelernt, nachdem du und ich... nach dem, was wir getan hatten, als meine Mutter so böse war und ich mir so schlecht vorkam. Er hat mich getröstet und... sie war furchtbar wütend darüber.«
Sie schluchzte.
Nick warf seine Zigarette auf die Straße und legte auch den anderen Arm um sie.
»Er hatte mich gefunden. Das war es, Nick. Er hatte mich endlich gefunden. Und das wollte sie nicht. Deswegen sind wir dauernd umgezogen. Und diesmal sind wir geblieben, und da hatte er genug Zeit. Und da ist er gekommen. Genau so, wie ich immer gewußt habe, daß er eines Tages kommen würde.«
Nick schwieg einen Augenblick. Sie hörte, wie er Atem holte. »Maggie, du glaubst, daß der Pfarrer dein Vater war?«
»Sie wollte nicht, daß ich zu ihm gehe, und ich bin trotzdem zu ihm gegangen.«
Sie hob den Kopf und packte seine Jacke. »Und jetzt verbietet sie mir, dich zu sehen. Aber ich geh nicht mehr heim. Nie mehr. Und du kannst mich auch nicht dazu zwingen. Niemand kann das. Wenn du's versuchst...«
»Habt ihr irgendwelche Probleme, ihr beiden?«
Beim Klang der fremden Stimme fuhren sie beide zusammen und drehten sich herum. Eine zaundürre Polizeibeamtin stand vor ihnen, fest eingepackt gegen die Kälte, die Mütze in kesser Schrägstellung auf dem Kopf. In der einen Hand hatte sie ein Notizbuch, in der anderen einen Plastikbecher mit irgendeiner dampfenden Flüssigkeit. Sie trank daraus, während sie auf Antwort wartete.
»Ach, Krach in der Schule«, sagte Nick. »Nichts Besonderes.«
»Braucht ihr Hilfe?«
»Nein, nein. Ist schon in Ordnung.«
Die Polizeibeamtin musterte Maggie mit einem Blick, der mehr Neugier als Teilnahme enthielt. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Nick. Demonstrativ blickte sie über den Rand ihres Bechers zu ihnen hinunter, während sie wieder einen Schluck trank. Dann nickte sie und sagte: »Dann macht mal, daß ihr nach Hause kommt«, und blieb abwartend stehen.
»Ja, in Ordnung«, sagte Nick. Er zog Maggie hoch. »Komm. Gehen wir.«
»Wohnt ihr hier in der Nähe?« fragte die Polizeibeamtin.
»Nicht weit von der Hauptstraße.«
»Ich hab euch hier noch nie gesehen.«
»Nein? Ich hab Sie schon oft gesehen. Sie haben doch einen Hund, nicht?«
»Einen Corgi, ja.«
»Sehen Sie. Ich hab's gewußt. Ich hab Sie gesehen, wenn Sie mit ihm spazierengegangen sind.«
Nick tippte sich zum Gruß mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Wiedersehen«, sagte er, legte Maggie den Arm um die Taille und zog sie mit sich in Richtung Hauptstraße. Sie drehten sich beide nicht um, um zu
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