06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Pförtnerhäuschen als der Pfad, der vom Cotes Fell herunterkam. Er ging schnell. Er redete sich ein, es sei das Verlangen nach Vergeltung, das ihn so rasch vorwärtstrieb. Unentwegt wiederholte er sich beim Gehen im Geiste ihren Namen: Annie, Annie, Annie, meine Liebste. Er tat es, um die Worte Dreimal Liebe und Tod nicht hören zu müssen, die ihm im Gleichklang mit dem Pulsen seines Bluts in den Ohren dröhnten. Als er endlich zu Hause ankam, glühte er am ganzen Körper, aber Hände und Füße waren eiskalt. Er konnte den unregelmäßigen Schlag seines Herzens in seinen Ohren hören, und seine Lunge schien nicht genug Luft zu bekommen. Er ignorierte die Symptome gut drei Stunden lang, aber als sich nichts besserte, beschloß er, etwas zu essen.
Er spülte den Fisch mit drei Flaschen Watney's hinunter. Die erste trank er schon, während das Brot noch im Toaster steckte. Er warf die Flasche in den Müll und suchte mit der zweiten in der Hand im Schrank nach Sardinen. Die Dose machte ihm Schwierigkeiten. Den Metalldeckel um den Öffner zu drehen, verlangte eine ruhige Hand, und die hatte er im Moment nicht. Er schaffte es, ihn bis zur Hälfte aufzurollen, dann rutschten seine Finger ab, und der scharfe Rand des Deckels schnitt ihm die Hand auf. Blut schoß aus der Wunde. Es mischte sich mit dem Öl des Fischs, begann zu sinken, bildete dann kleine Perlen, die auf dem Öl trieben wie scharlachrote Köder. Er spürte keinen Schmerz. Er wickelte sich ein Geschirrtuch um die Hand, tupfte mit seinem Zipfel das Blut von der Oberfläche des Öls und führte mit der anderen Hand die Bierflasche zum Mund.
Als der Toast fertig war, grub er den Fisch mit den Fingern aus der Dose. Er reihte die Sardinen nebeneinander auf dem Brot auf, gab Salz und Pfeffer und eine Zwiebelscheibe dazu und begann zu essen. Das Brot schmeckte und roch nach nichts, und das wunderte ihn, weil er sich lebhaft erinnern konnte, wie seine Frau sich einmal über den Fischgeruch von Sardinen beschwert hatte. Dieser Fischgeruch treibt mir gleich das Wasser in die Augen, Col, hatte sie gesagt, »Und ich hab das Gefühl, mir dreht sich gleich der Magen um.«
Ihre Katzenuhr tickte an der Wand über dem Herd, schwanzwedelnd und augenrollend. Sie schien ihm ewig ihren Namen zu wiederholen: nicht mehr ticktack, sondern Annie, Annie, Annie. Colin konzentrierte sich ganz darauf. Wie zuvor der Rhythmus seiner Schritte verdrängte die ständige Wiederholung ihres Namens andere Gedanken.
Mit dem dritten Bier schwemmte er die Reste des geschmacklosen Fischs aus seinem Mund. Dann schenkte er sich einen kleinen Whisky ein und kippte ihn in zwei großen Schlucken hinunter, um wieder Leben in seine tauben Glieder zu bringen. Aber er konnte die Kälte nicht ganz besiegen, obwohl er eingeheizt hatte und immer noch seine dicke Jacke trug.
Nur sein Gesicht war so glühend heiß, daß seine Haut brannte. Sein Körper jedoch zitterte vor Kälte wie Espenlaub. Er trank noch einen Whisky. Er ging von der Spüle zum Küchenfenster und sah hinüber zum Pfarrhaus. Und da vernahm er es wieder, so deutlich, als stünde Rita direkt hinter ihm. Dreimal Liebe und Tod. Er hörte die Worte so klar, daß er mit einem Aufschrei herumfuhr, den er sofort unterdrückte, als er sah, daß er allein war. Er fluchte laut. Die verdammten Worte hatten keine Bedeutung. Sie waren nichts weiter als ein Köder, ein kleines Teil eines in Wahrheit gar nicht existierenden Lebenspuzzles, mit dem jede Handleserin versuchte, ihren Zauberbann auszuüben.
Er wandte sich wieder dem Fenster zu. Das Haus drüben auf der anderen Seite blickte zu ihm zurück. Drinnen war Polly und tat zweifellos das, was sie immer tat - schrubbte, polierte, wischte Staub und wachste die Böden, kurz, demonstrierte mit Hingabe ihre Nützlichkeit. Aber das war nicht alles, wie er nun endlich begriff. Zugleich nämlich wartete Polly nur auf den Augenblick, daß Juliet Spences blinde Bereitschaft, Schuld auf sich zu nehmen, zu ihrer Verhaftung führen würde. Zwar war eine Juliet im Gefängnis nicht ganz das gleiche wie eine tote Juliet, aber es war besser als nichts. Und Polly war zu schlau, um einen zweiten Anschlag auf Juliets Leben zu wagen.
Colin war kein religiöser Mensch. Er hatte seinen Glauben an Gott im zweiten Jahr von Annies langem Sterben aufgegeben. Dennoch mußte er zugeben, daß an jenem Abend im Dezember, als der Pfarrer gestorben war, im Verwalterhaus von Cotes Hall eine höhere Macht am Werk gewesen war.
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