06 - Denn keiner ist ohne Schuld
standen wie immer draußen auf dem Vorplatz der Schule herum, einige beim Schulbus, andere bei wartenden Autos. Mädchen kämmten sich die Haare und schminkten sich die Lippen. Jungen trugen spielerische kleine Kämpfe miteinander aus oder bemühten sich, möglichst cool zu wirken. Als Maggie durch die Tür kam, langsam die Treppe hinunterging und nach Josie und Nick Ausschau hielt, war sie innerlich noch mit den Fragen beschäftigt, die der Londoner Polizeibeamte ihr gestellt hatte. Sie dachte sich nicht einmal etwas dabei, als bei ihrem Erscheinen eine Welle zischenden Geflüsters durch die Menge ging. Seit dem Gespräch in Mrs. Crones Zimmer fühlte sie sich irgendwie schmutzig und verstand nicht recht, wieso. Sie war daher ganz damit beschäftigt, jeden möglichen Grund dafür zu drehen und zu wenden, als handelte es sich um einen Stein, und wartete eigentlich nur darauf zu sehen, ob eine Portion bisher unbewußten Schuldgefühls aus dem Dunkel ans Licht kommen würde.
Sie war Schuldgefühle gewöhnt. Sie sündigte ja dauernd, sie versuchte, sich einzureden, sie sündige gar nicht, sie entschuldigte sogar ihre schlimmsten Taten damit, daß sie sich einredete, es sei die Schuld ihrer Mutter. Nick liebt mich, Mom, auch wenn du es nicht tust. Siehst du, wie er mich liebt? Siehst du's? Siehst du's?
Niemals hatte ihre Mutter mit Schuldzuweisungen nach dem Motto »Nach allem, was ich für dich getan habe, Margaret« geantwortet, wie Pam Rices Mutter das völlig ohne Wirkung zu tun pflegte. Niemals sprach sie von tiefer Enttäuschung, wie nach Josies Berichten deren Mutter dies bei mehr als einer Gelegenheit getan hatte. Und dennoch fühlte sich Maggie ihrer Mutter gegenüber ständig schuldig: sie glaubte ihre Mutter zu enttäuschen; sie machte ihre Mutter ärgerlich; sie bereitete ihrer Mutter Kummer. All dies wußte Maggie, sie brauchte es gar nicht zu hören. Sie hatte schon immer ihrer Mutter die Gefühle vom Gesicht ablesen können.
So war ihr am vergangenen Abend klar geworden, wieviel Macht sie in diesem Krieg mit ihrer Mutter besaß. Sie besaß die Macht zu strafen, zu verletzen, zu warnen, zu rächen. Die Liste konnte man fortsetzen. Sie hätte gern triumphiert in dem Wissen, daß sie ihrer Mutter die Kontrolle über ihr Leben aus den Händen gerissen hatte. Aber es beunruhigte sie nur. Und als sie gestern spätabends nach Hause gekommen war - nach außen stolz auf die Knutschflecken, die Nick ihr auf den Hals gedrückt hatte -, waren die warmen Flammen der Befriedigung beim Anblick der verzweifelten Sorge ihrer Mutter schlagartig erloschen. Sie äußerte nicht ein einziges Wort des Vorwurfs. Sie kam nur zur Tür des dunklen Wohnzimmers und sah ihre Tochter apathisch an. Sie sah aus, als wäre sie hundert Jahre alt.
»Mama?« sagte Maggie.
Ihre Mutter griff ihr mit einer Hand unter das Kinn und drehte sachte ihren Kopf, um die Flecken auf dem Hals sichtbar zu machen; dann ließ sie sie los und ging die Treppe hinauf.
Maggie hörte, wie die Tür leise hinter ihr ins Schloß fiel. Es war ein Geräusch, das mehr schmerzte als die Ohrfeige, die sie verdient hatte.
Sie war schlecht. Sie wußte es. Gerade wenn sie Nick am nächsten war, sich bei ihm geborgen fühlte, gerade wenn er sie liebte, wenn er sie mit seinen Händen und seinem Mund streichelte, sie an sich drückte und festhielt, sich auf sie legte und in sie eindrang und Maggie, Maggie sagte, war sie schwarz und schlecht. Sie war voller Schuld. Jeden Tag gewöhnte sie sich mehr an die Scham über ihr Tun, niemals jedoch hatte sie erwartet, daß eines Tages das Gefühl in ihr geweckt werden würde, sich auch ihrer Freundschaft mit Mr. Sage schämen zu müssen.
Was sie fühlte, war wie das brennende Jucken von Brennesselblättern. Nur quälte der lästige Reiz nicht ihre Haut, sondern ihre Seele. Immer wieder hörte sie, wie der Polizeibeamte sie nach Geheimnissen fragte, und fühlte sich dabei wie von einem inneren Juckreiz geplagt. Mr. Sage hatte gesagt, du bist ein gutes Mädchen, Maggie, vergiß das nie und glaub ganz fest daran. Er hatte gesagt, wir geraten durcheinander, wir laufen in die Irre, aber durch unsere Gebete können wir immer den Weg zu Gott zurückfinden. Gott hört uns zu, hatte er gesagt, Gott verzeiht alles. Ganz gleich, was wir tun, Maggie, Gott verzeiht.
Er war der Trost in Person gewesen, Mr. Sage. Er war verständnisvoll gewesen. Er war die Güte und die Liebe gewesen.
Maggie hatte die Vertrautheit ihrer gemeinsamen Stunden
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