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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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der Stelle, an der sie lag, konnte sie die Treppe sehen, und sie begann, langsam zu ihr hinzukriechen, keinen anderen Gedanken im Kopf, als dem kalten Luftzug zu entkommen, einen dunklen, sicheren Ort zu finden. Sie begann sich hinaufzuwinden. Sie konnte ihre Beine nicht gebrauchen, deshalb zog sie sich mit den Händen am Geländer hoch. Ihre Knie schlugen gegen die Stufen. Als sie einmal zur Seite schwankte, prallte sie mit der Hüfte an die Wand und entdeckte das Blut. Sie hielt inne, um es neugierig zu betrachten, einen Finger in die rote Feuchte zu tauchen, und sie wunderte sich, wie schnell es trocknete, wie es die Farbe veränderte und fast braun wurde, wenn es sich mit Luft vermischte. Sie sah, daß es zwischen ihren Beinen hervorsickerte, daß es schon lange genug lief, um auf den Innenseiten ihrer Schenkel farnähnliche Muster zu bilden.
    Schmutzig, dachte sie. Sie würde baden müssen.
    Der Gedanke an ein Bad breitete sich in ihrem Hirn aus und vertrieb die alptraumhaften Bilder. Sie klammerte sich an diese Vorstellung von Wasser und seiner Wärme, während sie sich weiter die Treppe hinaufzog und oben ins Bad kroch. Sie schloß die Tür und blieb auf den kalten weißen Kacheln sitzen, den Kopf an die Wand gelehnt, die Knie hochgezogen. Das Blut drang unter der Faust heraus, die sie zwischen ihre Beine drückte, um es zu stoppen.
    Nach einer kurzen Verschnaufpause drückte sie ihre Schultern an die Wand, schob sich einen halben Meter vorwärts und erreichte so die Badewanne. Sie legte den Kopf auf den Wannenrand und griff mit einer Hand nach dem Hahn. Ihre Finger kämpften, schafften es nicht, ihn zu drehen, und glitten schließlich ab.
    Irgendwie wußte sie, daß sie wieder ganz und heil werden würde, wenn sie sich nur waschen konnte. Wenn sie seinen Geruch entfernen und die Berührung seiner Hände von ihrem Körper schrubben konnte, wenn sie mit Seife ihren Mund säubern konnte. Wenn es ihr nur gelang, das Wasser aufzudrehen.
    Wieder griff sie nach dem Hahn. Wieder vergeblich. Sie versuchte es blind, weil sie die Augen nicht öffnen und sich in dem Spiegel sehen wollte, der, wie sie wußte, an der Badezimmertür hing. Wenn sie den Spiegel sah, würden ihr erneut Gedanken durch den Kopf schießen, und sie war fest entschlossen, jetzt an nichts zu denken. Außer ans Baden.
    Sie würde sich in die Wanne legen und nie wieder herauskommen, nur das Wasser steigen und sinken lassen. Sie würde auf sein Blubbern horchen, seinem Plätschern lauschen. Sie würde seine sanfte Berührung zwischen Fingern und Zehen spüren. Sie würde es lieben.
    Nur dauerte eben nichts ewig, nicht einmal das Baden, und wenn das Bad vorüber war. Denn was ihr hier jetzt geschah, war Sterben, ganz gleich, was sie sich vormachte, es war das Ende. Und sie erkannte, daß der Mensch im Zweifel immer allein war. Und wenn Leben Alleinsein bedeutete, würde das Sterben nicht anders sein.
    Sie konnte damit fertig werden. Allein sterben. Aber nur, wenn es hier und jetzt geschah. Weil es dann vorüber sein würde. Sie würde nicht aufstehen, ins Wasser steigen, ihn von sich abwaschen und zur Tür hinausgehen müssen. Sie würde niemals nach Hause gehen - o Göttin, dieser lange Weg - und ihrer Mutter gegenübertreten müssen. Sie würde ihn nie wiedersehen, ihm nie wieder in die Augen blicken und immer von neuem, wie in einem nicht enden wollenden Film den Moment erleben müssen, als ihr klar geworden war, daß er sie verletzen würde.
    Ich weiß nicht, was es heißt, einen anderen zu lieben, sagte sie sich. Ich dachte, es sei etwas Gutes, das Bedürfnis zu teilen. Ich dachte, es sei so, als streckte man die Hand aus und ein anderer nähme sie, hielte sie fest und zöge einen ans sichere Ufer. Man spricht. Man erzählt dem anderen von sich. Man sagt, hier tut es mir weh, und man vertraut ihm seine Verletzung an, und er nimmt sie an sich und vertraut einem dafür seine Verletzungen an. Man nimmt sich ihrer an, und so lernt man lieben. Man lehnt sich an, wo der andere stark ist. Er lehnt sich an, wo man selbst stark ist. Und irgendwo wächst man zusammen. Aber so wie es heute war, hier, in diesem Haus, so ist es nicht. Nein, so ist es nicht.
    Das war das Schlimmste, daß sie ihn liebte und sich nicht vom Schmutz dieser Liebe befreien konnte. Selbst in all ihrem Entsetzen, selbst in dem Augenblick, als sie genau wußte, was er vorhatte, selbst als sie ihn angefleht hatte, es nicht zu tun, und er es dennoch getan hatte - sie niedergeworfen und

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