06 - Denn keiner ist ohne Schuld
man den Schnee von der Leiche gefegt, und der Fotograf hatte sich noch einmal an die Arbeit gemacht.
Die restlichen Bilder dokumentierten eingehend den Todeskampf des Pfarrers Robin Sage. Tiefe Furchen, kreuz und quer im Boden, dicke Lehmklumpen an den Absätzen der Schuhe, Erde und Graspartikel unter seinen Fingernägeln legten davon Zeugnis ab, wie verzweifelt er versucht hatte, den Konvulsionen zu entkommen. Blut an seiner linken Schläfe, drei Risse in seiner Wange, ein zertrümmerter Augapfel und ein blutverschmierter Stein unter seinem Kopf ließen die Stärke der Konvulsionen ahnen und zeigten, daß er nicht fähig gewesen war, sie zu bezwingen. Die Haltung von Kopf und Hals - so weit nach rückwärts geworfen, daß ein Wirbelbruch unausweichlich schien - zeugte von einem verzweifelten Kampf um Atem. Und die Zunge, aufgeschwollen und blutig gebissen, sagte alles über die letzten Momente dieses Mannes.
Zweimal sah St. James die Bilder durch. Dann legte er eine Großaufnahme des Gesichts und eine zweite von einer der Hände zur Seite. »Wenn man Glück hat, stirbt man an Herzversagen. Wenn nicht, an Erstickung. Der arme Teufel. Er hat überhaupt kein Glück gehabt.«
Lynley brauchte sich die Fotografien, die St. James zur Untermauerung seiner Worte ausgesucht hatte, nicht anzusehen. Er hatte die bläuliche Verfärbung der Lippen und der Ohren gesehen. Er hatte das gleiche an den Fingernägeln bemerkt. Das unverletzte Auge war fast aus der Höhle getreten. Die bläulichweiße Verfärbung der Haut war weit fortgeschritten. Dies alles waren Anzeichen für Atemstillstand.
»Was glaubst du, wie lange es dauerte, bis er endlich starb?« fragte Deborah.
»Auf jeden Fall viel zu lang.«
St. James sah über den Autopsiebericht hinweg zu Lynley. »Du hast mit dem Pathologen gesprochen?«
»Alle Symptome sprechen eindeutig für eine Vergiftung durch Wasserschierling. Keine spezifischen Läsionen der Magenschleimhaut. Gastrische Irritation und Lungenödem. Todeszeit zwischen zweiundzwanzig Uhr abends und zwei Uhr morgens.«
»Und was sagte Sergeant Hawkins? Wieso hat das CID Clitheroe den Befund so schnell akzeptiert und sich aus den Ermittlungen zurückgezogen? Wieso hat man Shepherd den Fall ganz allein bearbeiten lassen?«
»Die Leute vom CID waren am Tatort gewesen, als die Leiche noch dort war. Es war, abgesehen von den äußeren Verletzungen, die er sich selbst im Gesicht beigebracht hatte, klar, daß sein Tod durch irgendeinen Anfall verursacht worden war. Sie wußten nicht, was für ein Anfall das gewesen sein konnte. Der Constable, der dabei war, dachte, als er die Zunge sah, tatsächlich, es handle sich um Epilepsie...«
»Guter Gott«, murmelte St. James.
Lynley nickte zustimmend. »Nachdem sie also ihre Aufnahmen gemacht hatten, überließen sie es Shepherd, die Einzelheiten zu diesem Todesfall zusammenzutragen. Es war ja sein Zuständigkeitsbereich. Zu diesem Zeitpunkt wußten sie nicht einmal, daß Sage die ganze Nacht draußen im Schnee gelegen hatte, denn er wurde ja erst vermißt, als er am folgenden Tag nicht zu der Trauung erschien, die er hätte vornehmen sollen.«
»Aber nachdem sie erfahren hatten, daß er zum Abendessen bei Juliet Spence gewesen war? Wieso haben sie da nicht eingegriffen?«
»Hawkins - er war übrigens jetzt, als ich mit meinem Dienstausweis in der Hand vor ihm stand, etwas entgegenkommender als am Telefon - erklärte mir, ihre Entscheidung sei von drei Faktoren beeinflußt worden: dem Eingreifen von Shepherds Vater in die Ermittlungen des Constable, dem, wie Hawkins glaubte, rein zufälligen Besuch Shepherds bei Juliet Spence am selben Abend und einigen zusätzlichen Informationen von Seiten der Gerichtsmediziner.«
»War der Besuch denn ein Zufall?« fragte St. James.
»Nein, Mrs. Spence hat ihn angerufen und gebeten zu kommen«, antwortete Lynley. »Sie sagte mir, sie habe das auch bei der gerichtlichen Untersuchung aussagen wollen, aber Shepherd habe darauf bestanden, daß sie sage, er sei zufällig auf seiner abendlichen Runde bei ihr vorbeigekommen. Sie sagte, er habe gelogen, weil er sie vor Klatsch und Verdächtigungen nach dem Urteilsspruch habe schützen wollen.«
»Wenn ich daran denke, wie das neulich abends hier im Pub war, scheint das aber nicht geklappt zu haben.«
»Richtig. Aber soll ich dir mal sagen, was ich an der ganzen Sache merkwürdig finde, St. James: Als ich heute morgen bei ihr war, gab sie unumwunden zu, daß sie Shepherd angerufen hatte.
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