06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Warum? Warum ist sie nicht bei der Geschichte geblieben, die sie vereinbart hatten, die inzwischen von allen geglaubt wurde, auch wenn sie gegen den Dorfklatsch nichts ausgerichtet hat?«
»Vielleicht war sie nie mit Shepherds Geschichte einverstanden«, meinte St. James. »Wenn er bei der gerichtlichen Untersuchung vor ihr ausgesagt hat, wollte sie ihn wahrscheinlich nicht bloßstellen.«
»Ja, aber warum ist sie dann nicht bei der Geschichte geblieben? Ihre Tochter war an dem Abend nicht zu Hause. Wenn nur sie und Shepherd wußten, daß sie ihn angerufen hatte, weshalb fühlt sie sich dann genötigt, jetzt mir eine andere Geschichte zu erzählen, auch wenn es die Wahrheit ist? Sie bringt sich doch durch dieses Geständnis nur selbst in die Bredouille.«
»Keiner wird glauben, daß ich schuldig bin, wenn ich zugebe, daß ich schuldig bin«, murmelte Deborah.
»Du lieber Gott, das ist ein ganz schön gefährliches Spiel.«
»Bei Shepherd hat's gewirkt«, sagte St. James. »Warum nicht auch bei dir? Sie sorgte dafür, daß er sie als Leidende sah, der übel geworden war, die sich übergeben hatte. Er glaubte ihr und ergriff Partei für sie.«
»Das war der dritte Punkt, der zu Hawkins' Entscheidung beitrug, das CID zurückzupfeifen. Ihre Übelkeit. Den Gerichtsmedizinern zufolge...«
Lynley stellte sein Glas nieder, setzte seine Brille auf und griff zu dem Bericht. Er überflog die erste Seite, die zweite und fand, was er suchte, auf der dritten. »Ah, hier ist es«, sagte er. »›Die Chancen auf Wiederherstellung bei Vergiftung mit Schierling ist gut, wenn bei dem Betroffenen Erbrechen herbeigeführt werden kann.‹ Die Tatsache, daß sie an Übelkeit und Erbrechen litt, bestätigt also Shepherds Behauptung, sie habe versehentlich auch von dem Schierling gegessen.«
»Absichtlich. Oder, was ich für wahrscheinlicher halte, überhaupt nicht.«
St. James trank einen Schluck von seinem Bier. »Herbeigeführt ist das Schlüsselwort, Tommy. Daraus geht nämlich hervor, daß das Erbrechen nicht eine natürliche Folge des Genusses von Schierling ist. Es muß herbeigeführt werden. Sie hätte also ein entsprechendes Mittel nehmen müssen. Und dazu hätte sie wissen müssen, daß sie Gift zu sich genommen hatte. Und wenn das der Fall ist, warum hat sie nicht Sage angerufen, um ihn zu warnen, oder jemand mobil gemacht, um ihn zu suchen?«
»Wäre es möglich, daß ihr tatsächlich nicht gut war, sie aber nicht wußte, woher die Übelkeit kam, und sie auf etwas ganz anderes zurückführte? Schlechte Milch vielleicht oder ein Stück Fleisch, das nicht mehr gut war.«
»Wenn sie unschuldig ist, kann sie die Übelkeit auf alles mögliche zurückgeführt haben. Das ist ganz klar.«
Lynley ließ den Bericht auf den Tisch hinunterfallen, nahm seine Brille ab und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Dann können wir eigentlich einpacken. Wir sagen, ja, sie hat's getan, und sie sagt, nein, ich hab's nicht getan. Und dabei wird's bleiben, solange wir kein Motiv haben. Wie sieht es aus, hat euch vielleicht der Bischof in Bradford eines geliefert?«
»Robin Sage war verheiratet«, sagte St. James.
»Er wollte mit seinen Kollegen über die Frau reden, die im Ehebruch aufgegriffen wurde«, fügte Deborah hinzu.
Lynley beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Keiner hat ein Wort davon gesagt...«
»Ich habe den Eindruck, daß niemand es wußte.«
»Und was ist aus der Ehefrau geworden? Ist Sage geschieden? Das wäre für einen Geistlichen schon sehr befremdlich.«
»Sie ist vor zehn oder fünfzehn Jahren ums Leben gekommen. Bei einem Bootsunfall in Cornwall.«
»Welcher Art?«
»Glennaven - das ist der Bischof in Bradford - wußte es nicht. Ich habe mit Truro telefoniert, kam aber zu dem Bischof dort nicht durch. Und sein Sekretär war nicht sehr entgegenkommend, sondern beschränkte sich darauf, mir zu sagen, daß es ein Bootsunfall gewesen sei. Er könnte am Telefon keine weiteren Auskünfte geben, sagte er. Was für ein Boot es war, unter welchen Umständen es zu dem Unfall kam, wo er geschah, wie das Wetter war, ob Sage bei seiner Frau war, als es geschah - nichts.«
»Eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus?«
»Nun ja, er wußte ja wirklich nicht, mit wem er es da zu tun hatte. Ich konnte mich auch nicht darauf berufen, von der Polizei zu sein. Und außerdem kann man unser Unternehmen hier wohl kaum als offizielles Ermittlungsverfahren bezeichnen.«
»Ja, aber was meinst du?«
»Zu dem Gedanken, daß
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