06 - Denn keiner ist ohne Schuld
nicht den Eindruck, daß er an Frauen großes Interesse hatte.«
Lynley und St. James tauschten einen Blick. Lynley sagte: »Wie meinen Sie das?«
Polly schloß die Finger um den Talisman und legte ihre Hand wieder auf die Armlehne des Sessels. »Er war zu den Frauen, die die Kirche saubergemacht haben, nie anders als zu den Burschen, die die Glocken geläutet haben. Ich dachte immer... Ich dachte, na ja, vielleicht ist der Pfarrer zu heilig. Vielleicht denkt er gar nic ht an Frauen und so was. Er hat ja viel in der Bibel gelesen. Und gebetet. Er hat mich oft aufgefordert, mit ihm zusammen zu beten. Kommen Sie, liebe Polly, hat er immer gesagt, beginnen wir den neuen Tag mit einem Gebet.«
»Und was war das für ein Gebet?«
»Gott hilf uns deinen Willen erkennen und den Weg finden.«
»Das war das ganze Gebet?«
»Es war die Hauptsache. Es war schon ein bißchen länger. Ich hab eigentlich nie gewußt, welchen Weg ich finden sollte.«
Ihr Mund verzog sich zu einem flüchtigen Lächeln. »Vielleicht den Weg zum guten Kochen. Aber er hat sich nie über meine Küche beschwert, der Pfarrer. Er sagte oft, Sie kochen wie der heilige Sowieso, liebe Polly. Ich weiß nicht mehr, wer es war. Der heilige Michael? Hat der gekocht?«
»Ich glaube, er hat gegen den Teufel gekämpft.«
»Ach so. Na ja. Ich bin nämlich nicht fromm, wissen Sie. Ich meine fromm in dem Sinn, daß ich in die Kirche gehe und so. Aber der Pfarrer hat das nicht gewußt.«
»Wenn er Ihre Küche so gut fand, muß er Ihnen doch gesagt haben, daß er an dem Abend, an dem er dann starb, zum Abendessen nicht zu Hause sein würde.«
»Er hat mir nur gesagt, daß ich ihm nichts zu richten brauchte. Ich hab nicht gewußt, daß er weggehen wollte. Ich hab nur gedacht, er fühlte sich vielleicht nicht wohl.«
»Warum?«
»Na ja, er hatte sich den ganzen Tag in seinem Schlafzimmer vergraben und hat mittags überhaupt nichts gegessen. Nur einmal kam er raus, so um die Nachmittagsteezeit, und hat im Arbeitszimmer telefoniert, aber dann ist er gleich wieder in sein Zimmer gegangen.«
»Um welche Zeit war das?«
»So gegen drei, würde ich sagen.«
»Haben Sie das Gespräch gehört?«
Sie öffnete ihre Hand und blickte auf das Amulett. Dann krümmte sie wieder die Finger darum. »Ich hab mir ein bißchen Sorgen um ihn gemacht. Es war sonst gar nicht seine Art, nichts zu essen.«
»Sie haben das Gespräch also gehört.«
»Nur einen kleinen Teil. Und nur, weil ich mir Sorgen gemacht hab. Ich meine, ich hab nicht absichtlich gelauscht. Wissen Sie, der Pfarrer hat schlecht geschlafen. Morgens war sein Bett immer so zerwühlt, als hätte er die ganze Nacht mit dem Bettzeug gekämpft. Und er...«
Lynley beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf seine Knie. Er sagte: »Es ist schon in Ordnung, Polly. Sie hatten die besten Absichten. Niemand wird Sie dafür verurteilen, daß Sie an einer Tür gelauscht haben.«
Sie sah nicht überzeugt aus. Mißtrauen flackerte in ihren Augen, die rasch von Lynley zu St. James und dann wieder zu Lynley wanderten.
»Was sagte er?« fragte Lynley. »Mit wem hat er gesprochen?«
»Niemand kann beurteilen, was damals geschehen ist. Niemand kann wissen, was heute das Rechte ist. Das liegt allein in Gottes Hand.«
»Wir sind nicht hier, um zu urteilen. Das ist...« »Nein, nein«, unterbrach Polly. »Das ist das, was ich gehört habe. Was der Pfarrer am Telefon gesagt hat. Niemand kann beurteilen, was damals geschehen ist. Niemand kann wissen, was heute das Rechte ist. Das liegt allein in Gottes Hand.«
»Und war das der einzige Anruf, den er an dem Tag gemacht hat?«
»Soviel ich weiß, ja.«
»War er zornig? Hat er mit erhobener Stimme gesprochen?«
»Er klang eigentlich hauptsächlich müde.«
»Und danach haben Sie ihn nicht mehr gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. Danach, sagte sie, hätte sie ihm den Tee ins Arbeitszimmer gebracht und festgestellt, daß er schon wieder in sein Schlafzimmer gegangen war. Sie folgte ihm dorthin und klopfte an die Tür, um ihm den Tee anzubieten, den er ablehnte.
»Ich hab gesagt, Sie haben den ganzen Tag keinen Bissen gegessen, Herr Pfarrer, und Sie müssen etwas essen, und ich gehe erst wieder, wenn Sie etwas von dem Toast genommen haben. Da hat er endlich die Tür aufgemacht. Er war angezogen, und das Bett war gemacht, aber ich wußte gleich, was er getan hatte.«
»Was denn?«
»Er hatte gebetet. Er hatte einen kleinen Betstuhl in einer Ecke vom Zimmer - mit einer Bibel
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