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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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verliert.«
    »Und da sie ihn nicht beschuldigt hat?«
    »Werd ich's aus einer anderen Richtung angehen müssen.«
    »Um ihm ins Gesicht zu treten?«
    »Bildlich gesprochen, ja. In Gedanken bin ich auf jeden Fall der Sohn meines Vaters, wenn auch nicht in Taten. Ich bin nicht stolz darauf, aber so ist es nun einmal.«
    »Was hast du Shepherd gegeben, bevor er abfuhr?«
    Lynley schob den Karton unter seinem Arm zurecht. »Ich hab ihm etwas zum Nachdenken gegeben.«
    Colin Shepherd erinnerte sich mit absoluter Klarheit daran, wann sein Vater ihn das letzte Mal geschlagen hatte. Wie ein Narr, viel zu sehr in Rage, um die Folgen von Widerstand zu bedenken, war er für seine Mutter in die Bresche gesprungen. Er hatte seinen Stuhl vom Eßtisch zurückgestoßen - er konnte noch heute das Geräusch hören, wie der Stuhl über den Boden geschrammt und dann an die Wand geflogen war - und hatte laut geschrien, laß sie endlich in Ruhe, Papa! Dabei hatte er seinen Vater bei den Armen gepackt, um zu verhindern, daß er ihr noch einmal ins Gesicht schlug.
    Die Wut seines Vaters entzündete sich stets an irgendeiner Kleinigkeit, und weil sie niemals wußten, wann damit zu rechnen war, daß sein Zorn sich zur Gewalttätigkeit steigerte, machte er ihnen um so mehr angst. Alles konnte der Auslöser sein: das Essen, ein fehlender Knopf an seinem Hemd, die Bitte um Geld für die Gasrechnung, eine Bemerkung über sein spätes Nachhausekommen am vergangenen Abend. An jenem Abend war ein Anruf von Colins Biologielehrer der Auslöser gewesen. Wieder ein Ungenügend, wieder keine Hausaufgaben, ob es vielleicht zu Hause Probleme gäbe, wollte Mr. Tranville wissen.
    Soviel immerhin hatte seine Mutter beim Essen angedeutet, zaghaft, als wollte sie ihrem Mann auf telepathischem Weg eine Botschaft übermitteln, die sie vor ihrem Sohn nicht aussprechen wollte. »Colins Lehrer hat gefragt, ob es Probleme gäbe, Ken. Hier zu Hause. Er meinte, eine Beratung wäre vielleicht.«
    Weiter kam sie nicht. »Eine Beratung?« sagte sein Vater. »Habe ich dich richtig verstanden? Beratung?«
    Sein Ton hätte ihr sagen müssen, daß es klüger von ihr gewesen wäre, in aller Ruhe zu essen und den Anruf für sich zu behalten.
    Doch statt dessen sagte sie: »Er kann nicht lernen, Ken, wenn alles so chaotisch ist. Das mußt du doch verstehen.«
    Ihr Ton flehte um Einsicht, verriet jedoch nur ihre Furcht.
    Ken Shepherd genoß es, wenn man ihn fürchtete. Und er liebte es, die Furcht noch zu schüren. Er legte zuerst sein Messer nieder, dann die Gabel. Er schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. Er sagte: »Ach sag mir doch, was alles so chaotisch ist, Clare.«
    Sie spürte, was er vorhatte, und sagte, es wäre wahrscheinlich gar nichts, wirklich nichts, doch sein Vater ließ sich nicht abspeisen. »Nein«, sagte er. »Sag es mir. Ich möchte es hören.«
    Als sie darauf nicht einging, stand er auf. »Antworte mir, Clare«, sagte er scharf, und als sie erwiderte: »Ach, es ist nichts, Ken. Iß doch weiter«, ging er schon auf sie los.
    Er hatte sie erst dreimal ins Gesicht geschlagen - wobei er mit der einen Hand ihre Haare packte, während er mit der anderen jedesmal, wenn sie aufschrie, härter zuschlug -, als Colin ihn ergriff. Die Reaktion seines Vaters war die gleiche wie immer seit Colins Kindheit. Frauen prügelte man mit der offenen Hand. Bei Jungen und Männern gebrauchte ein richtiger Mann die Fäuste.
    Diesmal jedoch war der Unterschied, daß Colin größer war. Zwar war die Furcht vor seinem Vater so groß wie immer, gleichzeitig jedoch war er zornig. Und der Zorn besiegte die Furcht. Als sein Vater ihn traf, schlug Colin zum erstenmal in seinem Leben zurück. Sein Vater brauchte mehr als fünf Minuten, um ihn niederzuprügeln. Er tat es mit den Fäusten, mit dem Gürtel, mit den Füßen. Aber als alles vorbei war, hatte sich das Schwergewicht der Macht verlagert. Und als Colin sagte: »Das nächste Mal bring ich dich um, du dreckiges Schwein«, sah er im Gesicht seines Vaters, wenn auch nur flüchtig, daß auch er fähig war, Furcht einzuflößen.
    Colin war stolz darauf gewesen, daß sein Vater seine Mutter nie wieder geschlagen hatte, daß seine Mutter einen Monat später die Scheidung eingereicht hatte und vor allem, daß sie beide dank seinem Eingreifen dieses Schwein auf immer los waren. Er hatte sich geschworen, niemals so zu werden wie sein Vater. Er hatte nie wieder einen Menschen geschlagen. Bis zu Polly.
    Colin saß in seinem Landrover an der

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