06 - Denn keiner ist ohne Schuld
»Colin.«
»Ich versprech es dir. Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Das weiß ich. Du bist so gut zu uns.«
»Und so will ich immer sein.«
Er küßte sie behutsam. »Kann ich dich jetzt allein lassen, Liebes?«
»Ich - ja. Ich warte. Ich geh nicht weg.«
Sie hob seine Hand und drückte sie an ihre Lippen. Dann krauste sie plötzlich die Stirn. Sie zog ihn ins Licht der offenen Tür. »Du hast dir weh getan«, sagte sie. »Colin, was ist mit deinem Gesicht?«
»Es ist nichts. Du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen«, sagte er. »Niemals.«
Und er küßte sie wieder.
Als er abgefahren war, als das Geräusch des Rover allmählich verklang und vom Seufzen des Abendwinds übertönt wurde, ließ Juliet an der Haustür ihre Jacke von den Schultern fallen. Ihren Schal warf sie obenauf. Die Handschuhe behielt sie an.
In Gedanken versunken betrachtete sie das alte Leder, innen mit Kaninchenfell gefüttert, das vom langen Tragen so weich wie Flaum geworden war. An einem der Handschuhe war am Handgelenk die Naht aufgegangen, und ein Fädchen hing herunter. Sie drückte die Hände in den Handschuhen an ihre Wangen. Das Leder war kühl. Die Temperatur ihres Gesichts konnte sie so nicht wahrnehmen; es war beinahe so, als berührte eine andere Person ihr Gesicht, als fließe aus diesen Händen Zärtlichkeit, Liebe, Erheiterung oder irgendeine Gefühlsäußerung, die im entferntesten auf eine Liebesbeziehung schließen ließ.
Ja, dadurch war alles erst ins Rollen gekommen: durch ihre Sehnsucht nach einem Mann. Jahrelang hatte sie es geschafft, diese Sehnsucht zu verleugnen, indem sie sich und ihre Tochter von den Menschen abgesondert hatte - Mom und Maggie gegen die ganze Welt. Sie hatte sich von der Sehnsucht und dem dumpfen Schmerz des Verlangens abgelenkt, indem sie alle ihre Energien auf Maggie konzentriert hatte; denn Maggie war es, die ihrem Leben seinen Sinn gab.
Juliet wußte, daß sie die Gewissensqualen und die Angst dieses Abends einer Seite von sich selbst zu verdanken hatte, die ihr immer wieder zu schaffen gemacht hatte. Das Verlangen nach einem Mann, die Begierde, einen männlichen Körper zu berühren, die Sehnsucht, unter ihm zu liegen und die Wonne jenes Augenblicks zu spüren, wenn ihre Körper sich vereinigten. Diese Sehnsucht hatte sie schließlich in die Katastrophe getrieben.
Sie hatte durch Polly von Colin gehört, lange ehe sie ihn das erstemal gesehen hatte. Und sie hatte sich vor allen Versuchungen sicher geglaubt, da sie wußte, daß Polly diesen Mann liebte; daß er erheblich jünger war als sie; daß sie ihn kaum je zu Gesicht bekommen würde - sie sah ja jetzt, da sie glaubte, das ideale Zuhause gefunden zu haben, um endlich zur Ruhe kommen zu können, sowieso kaum Menschen. Selbst als er an jenem Tag dienstlich hier herausgekommen war, als sie ihn bei der Lavendelhecke in seinem Wagen hatte sitzen sehen und die blanke Verzweiflung auf seinem Gesicht gesehen und sich an die Geschichte von seiner Frau erinnert hatte; selbst als sie gespürt hatte, wie im Angesicht seines Schmerzes ihre innere Abwehr zu bröckeln begann, als sie zum erstenmal seit Jahren den Schmerz eines anderen wahrgenommen hatte, hatte sie die Gefahr nicht gesehen, die er für sie war, da sie ihre Schwäche längst bezwungen glaubte.
Erst als er im Haus war und sie die kaum verhohlene Sehnsucht sah, mit der er in der Küche ihre alltäglichen Verrichtungen beobachtete, rührte sich ihr Herz. Während sie sich und ihm ein Glas von ihrem selbstgemachten Wein eingeschenkt hatte, hatte sie selbst sich umgesehen und zu erfassen versucht, was ihn bewegte. Sie wußte, die Äußerlichkeiten konnten es nicht sein - der Herd, der Tisch, die Stühle, die Schränke -, und sie fand es verwunderlich, daß ihn dies in irgendeiner Weise berühren sollte.
Armer Mann, hatte sie gedacht. Und das war ihr Verhängnis gewesen. Sie wußte von seiner Frau, sie begann zu sprechen, und von diesem Moment an hatte es keine Umkehr mehr gegeben. Irgendwann im Lauf des Gesprächs hatte sie gedacht, nur dies eine Mal, einfach mit einem Mann Zusammensein, nur dies eine Mal, nur einmal noch, er quält sich so, und wenn ich die Fäden in der Hand behalte, wenn ich diejenige bin, wenn es nur zu seiner Freude ist, ohne einen Gedanken an meine eigene, kann es doch nicht so schlecht sein, und als er sie nach der Büchse fragte und warum sie damit geschossen habe und wie, hatte sie seine Augen beobachtet. Sie antwortete ihm, kurz und sachlich.
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