06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Straße, die aus Winslough hinausführte, und rollte zwischen seinen Händen das Stück Stoff von Pollys Rock hin und her, das der Inspector ihm in die Hand gedrückt hatte. Er hatte solche Genugtuung verspürt: wie ihre Haut unter seiner Hand brannte, wie er ihr den Stoff vom Leib riß, den salzigen Schweiß ihres Entsetzens schmeckte, ihre Schreie hörte, ihr Betteln und besonders das erstickte Schluchzen des Schmerzes - kein Stöhnen der Lust jetzt, Polly, ist es das, was du wolltest, hast du's dir so erträumt?
- und schließlich die Unterwerfung. Er hatte sie niedergemacht, bezwungen und sie dabei die ganze Zeit mit der Stimme seines Vaters beschimpft, Kuh, Luder, Sau, Fotze.
Er hatte dies alles in einem Sturm blinder Wut und Verzweiflung getan, um sich die Erinnerung an Annie und ihre Wahrheit vom Leib zu halten.
Colin drückte das Stück Stoff an seine geschlossenen Augen und bemühte sich, nicht an sie zu denken, weder an Polly noch an seine Frau. Mit Annies Sterben hatte er jede Grenze überschritten, jeden Code verletzt, war durch die Dunkelheit gegangen und hatte sich schließlich ganz verloren, irgendwo zwischen tiefsten Depressionen und schwärzester Verzweiflung. Die Jahre seit ihrem Tod hatte er in dem Bemühen hingebracht, die Geschichte ihrer qualvollen Krankheit neu zu schreiben und in der Erinnerung das Bild einer Ehe neu zu erfinden, das bis ins letzte vollkommen war. Mit der selbst erschaffenen Lüge war so viel leichter zu leben gewesen als mit der Realität.
Immer hatte er das Gefühl gehabt, wenn er nur diese Fiktion aufrechterhalte, könnte er mit dem Leben zurechtkommen und vorwärtsschreiten. Dazu gehörte das, was er das Wunderbare ihrer Beziehung nannte, das sichere Wissen, daß zwischen ihm und Annie Wärme und Zärtlichkeit bestanden hatten, vollkommenes Verstehen, Mitgefühl und Liebe. Dazu gehörte auch eine Krankengeschichte, die sich aus Momenten heldenhaften Erduldens, seinen Bemühungen, sie zu retten, und schließlich seiner gelassenen Einsicht, daß er nichts ausrichten konnte, zusammensetzte.
Du wirst das alles vergessen, hatten die Leute bei der Beerdigung gesagt. Mit der Zeit wirst du dich nur noch an das Schöne erinnern. Und du hast zwei wunderbare Jahre mit ihr zusammen gehabt, Colin. Laß also die Zeit ihre heilende Wirkung tun und warte ab, was geschieht. Du wirst wieder erstarken, glücklich zurückblicken und immer die Erinnerung an diese zwei Jahre besitzen.
Es war nicht so geschehen. Daher hatte er seine Erinnerung an das Ende und an ihren gemeinsamen Weg dorthin verändert. In seiner überarbeiteten Version ihrer Geschichte hatte Annie ihr Schicksal mit Anmut und Würde angenommen, und er hatte keine Sekunde in seinem Bemühen nachgelassen, sie zu stützen. Aus der Erinnerung gelöscht waren ihre tiefen Abstiege in die Bitterkeit. Aus dem Denken verbannt war seine unversöhnliche Wut. Statt dessen existierte eine neue Realität, die all das verdeckte, dem er nicht ins Auge sehen konnte.
Laß es anders sein, hatte er nach ihrem Tod gedacht, laß mich besser sein, als ich war. Und er hatte die vergangenen sechs Jahre dazu benützt, dieses Ziel zu erreichen, hatte Vergessen gesucht statt Verzeihung.
Er rieb den dünnen Stoff an seinem Gesicht, spürte, wie er an den Stellen, an denen Pollys Nägel seine Haut aufgerissen hatte, hängenblieb. Er konnte Pollys geronnenes Blut ertasten und nahm den Eigengeruch ihres Körpers wahr.
»Es tut mir leid, Polly«, flüsterte er.
Er hatte sich standhaft geweigert, Polly Yarkin gegenüberzutreten, weil sie das verkörperte, was für ihn gefährlich war. Sie kannte die Realität. Sie verzieh sie auch. Aber ihr Wissen allein machte sie zu einer Gefahr, der er unbedingt aus dem Weg gehen mußte, wenn er in Seelenfrieden leben wollte. Sie sah das nicht. Sie begriff einfach nicht, wie wichtig es war, daß sie beide völlig getrennte Leben führten. Für sie gab es nichts anderes als ihre Liebe zu ihm und ihre Sehnsucht, ihn zu heilen. Hätte sie nur begreifen können, daß es nach Annie für sie beide niemals eine gemeinsame Zukunft geben konnte, so hätte sie die Grenzen, die er nach dem Tod seiner Frau ihrer Beziehung auferlegte, akzeptieren gelernt. Dann hätte sie ihn seinen eigenen Weg gehen lassen. Letztlich hätte sie sich über seine Liebe zu Juliet gefreut. Und dann wäre Robin Sage am Leben geblieben.
Colin wußte, was geschehen war und wie sie es bewerkstelligt hatte. Er verstand auch, warum. Wenn er
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