06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Wiedergutmachung an Polly nur leisten konnte, indem er dieses Wissen für sich behielt, so würde er das tun. Die Herren von New Scotland Yard würden die Zusammenhänge schon aufdecken, wenn sie erst einmal ihren Wanderungen zum Cotes Fell nachgingen. Er, der er zu einem so großen Teil mitverantwortlich war für das, was sie getan hatte, würde sie nicht verraten.
Er fuhr weiter. Anders als am vergangenen Abend brannten im Verwalterhaus alle Lichter, als er im Hof von Cotes Hall anhielt. Als er die Wagentür öffnete, kam Juliet herausgerannt. Im Laufen zog sie ihre dunkelblaue Jacke über. Ein rotgrüner Schal flatterte wie ein Banner an ihrem Arm.
»Gott sei Dank«, sagte sie. »Das Warten hat mich ganz wahnsinnig gemacht.«
»Tut mir leid.«
Er stieg aus dem Landrover. »Die Kerle von Scotland Yard haben mich aufgehalten, als ich gerade losfahren wollte.«
Sie zögerte. »Dich? Warum?«
»Sie waren vorher im Pfarrhaus gewesen.«
Sie knöpfte die Jacke zu, wickelte sich den Schal um den Hals. Sie zog Handschuhe aus ihrer Tasche und schlüpfte hinein. »Ah ja. Denen hab ich zu verdanken, daß Maggie weggelaufen ist.«
»Ich denke, sie werden bald wieder verschwinden. Der Inspector hat was gehört, daß der Pfarrer an dem Tag, bevor er - du weißt schon -, an dem Tag vor seinem Tod in London war. Da wird er sich wohl bald mit diesem Hinweis befassen. Und dann wieder mit irgendeinem anderen. So läuft das bei diesen Typen. Maggie wird er bestimmt nicht wieder belästigen.«
»O Gott.«
Juliet blickte auf ihre Hände hinunter. Sie brauchte viel zu lange, um in die Handschuhe richtig hineinzukommen. Mit ruckhaften Bewegungen, die ihre ängstliche Nervosität verrieten, streifte sie das Leder über jeden einzelnen Finger. »Ich habe mit der Polizei in Clitheroe telefoniert, aber sie haben mich überhaupt nicht ernst genommen. Sie ist dreizehn Jahre alt, sagten sie mir, sie ist erst seit drei Stunden weg, Madam, spätestens um neun wird sie wieder da sein. Das ist immer so bei den jungen Leuten. Aber das stimmt nicht, Colin. Du weißt es. Es stimmt nicht, daß sie immer wieder zurückkommen. Maggie wird bestimmt nicht zurückkommen. Ich weiß nicht einmal, wo ich nach ihr suchen soll. Josie hat gesagt, sie sei aus dem Schulhof gerannt. Nick ist ihr nachgelaufen. Ich muß sie finden.«
Er nahm sie beim Arm. »Ich suche sie schon. Du mußt hierbleiben.«
Sie riß sich von ihm los. »Nein! Das kann ich nicht. Ich muß doch wissen. Ich - glaub mir, ich muß sie finden. Ich muß selbst nach ihr suchen.«
»Aber du mußt hierbleiben. Es kann doch sein, daß sie anruft. Und wenn sie das tut, dann wirst du sie doch holen wollen, nicht wahr?«
»Aber ich kann nicht einfach hier sitzen und warten.«
»Du hast keine andere Wahl.«
»Und du verstehst mich nicht. Du willst mich trösten. Das weiß ich. Aber sie wird nicht anrufen. Glaub mir. Der Inspector hat mit ihr gesprochen. Er hat ihr alle möglichen Dinge eingeflüstert... Bitte... Colin... Ich muß sie selbst suchen. Hilf mir.«
»Das will ich ja. Das tu ich ja. Ich rufe sofort an, wenn ich etwas weiß. Ich fahr in Clitheroe vorbei und laß ein paar Wagen losschicken. Wir finden sie. Das verspreche ich dir. Geh jetzt wieder rein.«
»Nein. Bitte.«
»Anders geht's nicht, Juliet.«
Er führte sie zum Haus. Er spürte ihren Widerstand. Er öffnete die Tür. »Bleib in der Nähe des Telefons.«
»Er hat ihr den Kopf mit Lügen gefüllt«, sagte sie. »Colin, wo kann sie nur sein? Sie hat kein Geld, nichts zu essen. Sie hat nur ihren Schulmantel an, der ist doch nicht warm genug. Es ist kalt, und Gott weiß.«
»Sie kann noch nicht so weit gekommen sein. Und vergiß nicht, Nick ist bei ihr. Der paßt schon auf sie auf.«
»Aber wenn sie per Anhalter gefahren sind. Wenn jemand sie mitgenommen hat. Mein Gott, sie können inzwischen in Manchester sein. Oder in Liverpool.«
Er strich ihr mit den Fingern über die Schläfen. Ihre großen dunklen Augen zeigten Tränen und Panik. »Sch«, flüsterte er. »Hab keine Angst, Liebes. Ich hab dir gesagt, ich finde sie, und das werd ich auch. Du kannst dich darauf verlassen. Vertrau mir. Beruhige dich jetzt. Ruh dich aus.«
Er lockerte ihren Schal und knöpfte ihren Mantel auf. Er streichelte zärtlich ihr Gesicht. »Mach ihr jetzt etwas zu essen und halt es warm. Glaub mir, sie wird es früher essen, als du dir vorstellen kannst.«
Er berührte ihre Lippen und ihre Wangen. »Ich verspreche es dir.«
Sie schluckte.
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