06 - Denn keiner ist ohne Schuld
nicht.
»Wir gehen im Gleichschritt. Haben Sie das gemerkt? Aber wenn Sie Ihren Arm um meine Taille legen, geht es sich noch leichter.«
»Brendan!«
»Sie waren diese Woche gar nicht im Pub. Warum denn nicht?«
Wieder antwortete sie nicht. Sie bewegte ihre Schultern. Aber er ließ sie nicht los.
»Polly, waren Sie oben auf dem Cotes Fell?«
Sie fühlte die Kälte auf ihren Wangen. Unaufhaltsam kroch sie ihren Hals hinunter. Ah, dachte sie, jetzt kommt es endlich. Er hatte sie im letzten Herbst eines Abends dort gesehen. Er wußte das Schlimmste.
Doch er fuhr ganz zwanglos fort. »Ich merke, daß mir das Wandern von Woche zu Woche mehr Spaß macht. Stellen Sie sich das mal vor, ich war schon dreimal draußen beim Stausee. Ich habe eine lange Wanderung durch den Trouth of Bowland gemacht und dann noch eine, in der Nähe von Claughton, den Beacon Fell hinauf. Die Luft ist so herrlich frisch. Ist Ihnen das auch aufgefallen? Wenn man oben angekommen ist, meine ich. Aber Sie sind wahrscheinlich viel zu beschäftigt, um Wanderungen machen zu können.«
Gleich wird er's sagen, dachte sie. Gleich nennt er mir den Preis, den ich ihm dafür bezahlen muß, daß er den Mund hält.
»Bei den vielen Männern in Ihrem Leben.«
Die Anspielung war ihr ein Rätsel.
Er warf ihr einen Blick zu. »Es gibt doch Männer in Ihrem Leben, oder? Eine ganze Menge bestimmt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Sie in letzter Zeit nie im Pub waren. Sie waren beschäftigt, hm? Mit Ihren Verehrern, meine ich. Da gibt's doch sicher einen besonderen?«
Einen besonderen? Polly lachte müde.
»Es gibt jemanden, nicht wahr? Bei einer Frau wie Ihnen. Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mann da nein sagen würde. Wenn er nur die geringste Chance hätte. Ich jedenfalls bestimmt nicht. Sie sind eine tolle Frau, Polly. Das sieht doch jeder.«
Er schaltete die Taschenlampe aus und steckte sie ein. Mit der jetzt freien Hand faßte er sie beim Arm.
»Sie sehen so gut aus, Polly«, sagte er und neigte sich näher zu ihr. »Sie riechen so gut. Ich fasse Sie so gern an. Wer da kalt bleibt, der braucht einen Arzt.«
Er ging immer langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Es hatte seinen Grund, sagte sie sich. Sie hatten die Einfahrt zu dem Häuschen erreicht, in dem sie wohnte. Aber dann drehte er sie herum, so daß er ihr ins Gesicht sehen konnte.
»Polly«, sagte er drängend. Er streichelte ihre Wange. »Ich empfinde so viel für Sie. Ich weiß, Sie haben es gemerkt. Würden Sie mich bitte...«
Das blendende Licht zweier Autoscheinwerfer fing sie ein wie die Kaninchen. Der Wagen kam nicht die Clitheroe Road herunter, sondern rumpelte holpernd auf der schmalen Straße dahin, die hinter dem Häuschen zum Herrenhaus hinaufführte. Und genau wie Kaninchen erstarrten sie im Lichtschein, Brendan mit einer Hand an Pollys Wange und der anderen auf ihrem Arm. Seine Absichten waren unmißverständlich.
»Brendan!« sagte Polly.
Hastig senkte er beide Hände und trat zur Sicherheit zwei Schritte zurück. Aber es war zu spät. Der Wagen näherte sich ihnen langsam, wurde noch langsamer. Es war ein alter grüner Landrover, schmutzig und mit Schlamm bespritzt. Windschutzscheibe und Fenster waren jedoch sauber.
Polly wandte sich ab, weniger weil sie nicht gesehen, nicht zum Gegenstand des Dorfklatschs werden wollte - sie wußte, daß nichts sie davor bewahren würde -, sondern vielmehr, um den Fahrer nicht sehen zu müssen und die Frau, die neben ihm saß, mit ihrem gerade geschnittenen, graugesprenkelten Haar und dem kantigen Gesicht. Auch ohne es zu wollen, konnte Polly alles so klar sehen - wie die Frau den Arm auf der Rückenlehne des Sitzes ausgestreckt hatte, so daß ihre Fingerspitzen den Nacken des Fahrers berührten.
Colin Shepherd und Mrs. Spence verbrachten wieder einmal einen idyllischen Abend miteinander. Die Götter ließen Polly ihre Sünden nicht vergessen.
Verdammt, die Luft und der Wind, dachte Polly. Es gab eben keine Gerechtigkeit. Sie konnte tun, was sie wollte, immer lief es falsch. Sie knallte die Tür hinter sich zu und schlug einmal mit der Faust dagegen.
»Polly? Bist du das, Schatz?«
Sie hörte den watschelnden Schritt ihrer Mutter, als diese schwerfällig durch das Wohnzimmer schlurfte. Sie hörte ihren pfeifenden Atem und das Klappern und Klirren ihres Schmucks - Armbänder, Halsketten, Golddublonen und was ihre Mutter sonst noch so anzulegen pflegte, wenn sie morgens Toilette machte.
»Ja,
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