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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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klar, ich bin's, Rita«, antwortete sie. »Wer denn sonst?«
    »Keine Ahnung, Kind. Ein gutaussehender junger Mann vielleicht, der Unterhaltung sucht. Man muß immer auf eine Überraschung gefaßt sein. Ist jedenfalls mein Motto.«
    Rita lachte.
    Duftwolken lagen in den Räumen: Giorgio. Sie pflegte es eßlöffelweise über sich zu gießen. Sie kam zur Tür, füllte die ganze Öffnung, eine ungeheuer voluminöse Frau, die vom Hals bis zu den Knien zu einer einzigen formlosen Masse auseinanderquoll. Sie lehnte sich an den Türpfosten und atmete mühsam. Das Flurlicht glitzerte auf dem Schmuck auf ihrem gewaltigen Busen. Ihr Körper warf einen grotesken Schatten an die Wand.
    Polly hockte sich nieder, um ihre Stiefel aufzuschnüren. An den Sohlen klebten dicke feuchte Erde und Lehmklumpen. Ihrer Mutter entging das nicht.
    »Wo warst du, Kind?«
    Rita klimperte mit einer ihrer langen Halsketten, eine Gliederkette aus großen Katzenköpfen in Messing. »Hast du 'ne Wanderung gemacht?«
    »Die Straße ist matschig«, antwortete Polly mit einem Ächzen, während sie sich einen Stiefel vom Fuß zog und sich den anderen vornahm. Die Schnürsenkel waren klatschnaß und ihre Finger steif. »Wir haben Winter. Hast du vielleicht vergessen, wie's da hier aussieht?«
    »Ha, ich wünschte, das könnte ich«, antwortete ihre Mutter. »So, und wie war's heute in der großen Metropole?«
    Sie betonte das Wort falsch, legte den Akzent auf die zweite Silbe. Sie tat es absichtlich. Das gehörte zu ihrer Selbstinszenierung. Hier im Dorf umgab sie sich mit dem Schein der Unwissenheit, Teil der Rolle, in die sie schlüpfte, wenn sie für den Winter nach Hause, nach Winslough, kam. Im Frühling, Sommer und Herbst war sie Rita Rularski, Wahrsagerin, die aus den Tarot-Karten, aus geworfenen Steinen, aus der Hand las. In ihrer Bude blickte sie für all jene, die bereit waren, die geforderte Geldsumme hinzublättern, in die Zukunft, legte die Vergangenheit aus und erläuterte den Sinn einer unruhigen, widerspenstigen Gegenwart. Ob Einheimische, Touristen, Urlauber, neugierige Hausfrauen oder feine Damen, die sich amüsieren wollten, Rita empfing sie alle mit gleicher Grandezza, in einen Kaftan gehüllt, der groß genug für einen Elefanten war, auf dem Kopf ein leuchtendes Tuch, das ihr graues krauses Haar bedeckte.
    Doch im Winter wurde sie wieder Rita Yarkin, kehrte für die drei kalten Monate zu ihrem einzigen Kind nach Winslough zurück. Sie stellte ihr handgefertigtes Schild am Straßenrand auf und wartete auf Kundschaft, die selten kam. Sie las Zeitschriften und saß vor dem Fernseher. Sie fraß wie ein Scheunendrescher und lackierte sich regelmäßig die Nägel.
    Polly warf einen neugierigen Blick darauf. Purpurrot heute, mit einem Goldstreifen, der sich diagonal über jeden Nagel zog. Die Farbe biß sich mit ihrem kürbisfarbenen Kaftan, doch sie war dem gestrigen Gelb entschieden vorzuziehen.
    »Hast du heute abend mit jemand Streit gehabt, Schätzchen?« fragte Rita. »Du hast eine Aura, weißt du, die ist echt auf nichts geschrumpft. Das ist gar nicht gut, hm? Komm, laß mich mal dein Gesicht ansehen.«
    »Es ist nichts.«
    Polly gab sich geschäftig. Sie knallte ihre Stiefel in den Holzkasten, der neben der Haustür stand. Sie nahm das Kopftuch ab und faltete es säuberlich Ecke auf Ecke. Dann schob sie es in ihre Manteltasche und fegte mit der Hand über den Mantel, um Fussel und nicht vorhandene Schmutzspritzer zu entfernen.
    Aber so leicht ließ ihre Mutter sich nicht ablenken. Sie stieß sich mit einiger Anstrengung vom Türpfosten ab und wälzte ihre Massen watschelnd zu Polly hinüber. Sie drehte ihre Tochter herum und blickte ihr aufmerksam ins Gesicht. Mit der offenen Hand zeichnete sie in einem Abstand von ungefähr zwei Zentimetern die Form von Pollys Kopf und Schultern nach.
    »Hm. Ich seh schon.«
    Sie schürzte die Lippen und ließ seufzend die Arme herabfallen. »Sterne und Erde, Mädchen, hör endlich auf, so dumm zu sein.«
    Polly wich zur Seite aus und steuerte auf die Treppe zu. »Ich brauche meine Hausschuhe«, sagte sie. »Ich hol sie schnell. Ich bin gleich wieder da. Ich riech schon das Essen. Hast du Gulasch gemacht, wie du gesagt hast?«
    »Jetzt hör mir mal zu, Pol. Mr. C. Shepherd ist nichts Besonderes«, sagte Rita. »Er hat einer Frau wie dir nichts zu bieten. Siehst du das denn immer noch nicht?«
    »Rita...«
    »Was zählt, ist das Leben. Das Leben, verstehst du? Du hast Leben und Wissen wie Blut in

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