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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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deinen Adern. Du hast Gaben, wie ich sie nie gehabt, wie ich sie nie gesehen habe. Gebrauch sie! Verdammt noch mal, wirf sie nicht einfach weg! Bei allen Göttern im Himmel, wenn ich nur die Hälfte von dem hätte, was du hast, würde mir die ganze Welt gehören. Jetzt bleib endlich stehen, Mädchen, und hör mir zu!«
    Sie schlug mit der Hand krachend auf das Treppengeländer.
    Polly spürte, wie die ganze Treppe zitterte. Mit einem Seufzer der Resignation drehte sie sich herum. Sie und ihre Mutter waren jedes Jahr nur diese drei Monate im Winter zusammen, aber in den letzten sechs Jahren zogen sich diese immer unerträglich in die Länge, da Rita den geringsten Anlaß nutzte, um Pollys Lebensart unter die Lupe zu nehmen und zu kritisieren.
    »Das war doch er, der da eben im Auto vorbeigefahren ist, oder?« fragte Rita. »Mr. C. Shepherd höchstpersönlich. Mit ihr zusammen, stimmt's? Sie sind von oben, vom Herrenhaus gekommen. Und das tut dir weh, nicht wahr?«
    »Es ist nichts«, sagte Polly wieder.
    »Da hast du ausnahmsweise recht. Es ist nichts. Er ist nichts. Was grämst du dich dann?«
    Aber es stimmte ja nicht, daß er für Polly nichts war. Nur, wie konnte sie das ihrer Mutter erklären, deren einzige Liebe ein abruptes Ende gefunden hatte, als ihr Mann an einem regnerischen Morgen, dem Morgen von Pollys siebtem Geburtstag, Winslough verlassen hatte, um nach Manchester zu fahren und »seinem kleinen Mädchen etwas ganz Besonderes zu kaufen«, und nie wieder nach Hause gekommen war.
    Wenn sie erzählte, was ihr und ihrem einzigen Kind zugestoßen war, sagte Rita Yarkin nie, sie sei verlassen worden. Sie sagte immer, es sei ein Segen gewesen. Wenn der Mann zu dumm gewesen sei, um zu erkennen, was er an diesen beiden Frauen gehabt hatte, dann seien sie ohne ihn besser dran. Das war Ritas Sichtweise des Lebens. Jede Schwierigkeit, jede Prüfung und jedes Unglück ließen sich mit Leichtigkeit zu verkappten Glücksfällen umdefinieren. Enttäuschungen waren wortlose Botschaften der Göttin. Zurückweisungen waren nichts weiter als Hinweise darauf, daß der am brennendsten gewünschte Weg nicht der beste war. Schon vor langer Zeit nämlich hatte sich Rita Yarkin - mit Leib und Seele - dem Schutz und der Obhut der Bruderschaft der Weisen anvertraut. Polly bewunderte sie für soviel Vertrauen und Hingabe. Sie wünschte nur, sie wäre ebenfalls dazu imstande.
    »Ich bin nicht wie du, Rita.«
    »Bist du schon«, widersprach Rita. »Du bist mir ähnlicher als ich mir selbst. Wann hast du das letzte Mal den Kreis gezogen? Seit ich wieder da bin, bestimmt nicht.«
    »Doch. Zwei- oder dreimal.«
    Ihre Mutter zog skeptisch eine nachgezogene Braue hoch. »Da warst du aber sehr zurückhaltend, hm? Wo hast du ihn denn gezogen?«
    »Oben am Cotes Fell. Das weißt du doch, Rita.«
    »Und zu wem hast du gebetet?«
    Polly hätte ihr am liebsten nicht geantwortet, aber die Macht ihrer Mutter wurde mit jeder Antwort, die sie gab, stärker. Sie fühlte sie jetzt ganz deutlich, als flösse die Energie aus Ritas Fingern und kröche das Treppengeländer hinauf in Pollys Hand.
    »Venus«, antwortete sie unglücklich und wandte den Blick von Rita ab. Sie wartete auf den Spott.
    Aber der kam nicht. Statt dessen hob Rita ihre Hand vom Geländer und sah ihre Tochter nachdenklich an. »Venus«, sagte sie. »Aber hier geht's doch nicht darum, Liebestränke zu mischen, Polly.«
    »Das weiß ich.«
    »Dann...«
    »Aber um Liebe geht es. Du willst nicht, daß ich Liebe empfinde. Das weiß ich, Mama. Aber sie ist trotzdem da. Ich kann sie nicht abstellen, nur weil du das gern hättest. Ich liebe ihn. Glaubst du nicht, ich würde sofort damit aufhören, wenn ich das könnte? Glaubst du nicht, daß ich darum bete, nichts für ihn zu empfinden - oder wenigstens nicht mehr als er für mich? Glaubst du denn, ich hab mir diese Folter ausgesucht?«
    »Ich glaube, jeder von uns sucht sich seine eigene Folter aus.«
    Rita watschelte zu einem alten Zeitungsständer aus Rosenholz, der neben der Treppe stand. Ächzend bückte sie sich und zog die einzige Schublade des kleinen Möbels auf. Sie entnahm ihr zwei rechteckige Holzstücke. »Hier«, sagte sie. »Nimm.«
    Wortlos nahm Polly das Holz. Sie roch seinen unverwechselbaren Duft, scharf, aber angenehm, durchdringend. »Zeder«, sagte sie.
    »Richtig«, bestätigte Rita. »Verbrenn es für Mars. Bitte ihn um Kraft. Überlaß die Liebe denen, die nicht deine Gaben besitzen.«

3
    Mrs. Wragg verließ sie

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