06 - Denn keiner ist ohne Schuld
war, war daran mit schuld, daß sie dieses Verbrechen begangen hatte. Wie konnte er es jetzt wagen, einen Stein auf sie zu werfen, da er selbst zumindest teilweise für das verantwortlich war, was sie getan hatte? Wie konnte er einen Prozeß einleiten, der sie für immer vernichten würde und gleichzeitig das Risiko in sich barg, auch dem Kind schwer zu schaden? War Maggie vielleicht wirklich besser bei ihr aufgehoben als bei dieser weißhaarigen Frau mit ihren vielfarbigen Kindern und deren nicht existenten Vätern? Und wenn ja, konnte er vor einem Verbrechen die Augen verschließen, wenn er in der Bestrafung in diesem Fall das größere Unrecht sah?
Er hatte gebetet und um die Einsicht gefleht. Er war auf der Suche nach dem Unterschied zwischen dem, was rechtens war, und dem, was recht war. Jenes letzte Telefongespräch mit seiner Frau hatte ahnen lassen, wie seine Entscheidung ausgefallen war: Niemand kann beurteilen, was damals geschehen ist. Niemand kann wissen, was heute das Rechte ist. Das liegt allein in Gottes Hand.
Lynley sah auf seine Taschenuhr. Es war halb zwei. Er würde nach Manchester fliegen und dort einen Range Rover mieten. So konnte er bis zum Abend zurück in Winslough sein.
Er hob den Hörer des Autotelefons ab und tippte Helens Nummer. Sie wußte alles, als er nur ihren Namen sagte.
»Soll ich mitkommen?« fragte sie.
»Nein. Ich bin jetzt schwer zu ertragen. Und später auch.«
»Das macht mir doch nichts aus, Tommy.«
»Aber mir.«
»Ich möchte dir irgendwie helfen.«
»Dann sei für mich da, wenn ich zurückkomme.«
»Wie?«
»Ich möchte nach Hause kommen und möchte die Gewißheit haben, daß du mein Zuhause bist.«
Sie zögerte. Er glaubte, sie atmen hören zu können, wußte aber, daß die Verbindung seines Autotelefons dafür viel zu unklar war. Wahrscheinlich hörte er nur sich selbst.
»Und was werden wir tun?« fragte sie.
»Wir werden einander lieben. Heiraten. Kinder bekommen. Das Beste hoffen. Gott, ich weiß nicht mehr, Helen.«
»Du hörst dich schrecklich an.«
Ihre eigene Stimme klang zutiefst unglücklich. »Was wirst du tun?«
»Ich werde dich lieben.«
»Ich meine, nicht hier. Ich meine, in Winslough. Was wirst du tun?«
»Ich würde wünschen, Salomon zu sein, und statt dessen werde ich Nemesis sein.« »Ach, Tommy.«
»Sag es. Irgendwann mußt du es sagen. Warum also nicht jetzt?«
»Ich werde hier sein. Immer. Wenn es vorbei ist. Das weißt du.«
Sehr langsam legte er auf.
DAS WERK DER RACHEGÖTTIN
27
»Hat er sie gesucht, Tommy?« fragte Deborah. »Meinst du, er hat vielleicht nie geglaubt, daß sie ertrunken ist? Ist er deshalb von Gemeinde zu Gemeinde gezogen? Ist er darum nach Winslough gekommen?«
St. James rührte noch einen Löffel Zucker in seine Tasse und sah seine Frau nachdenklich an. Sie hatte ihnen den Kaffee eingeschenkt, ihrem eigenen jedoch nichts hinzugegeben. Sie drehte das kleine Sahnekännchen hin und her, während sie mit gesenktem Blick auf Lynleys Antwort wartete. Es war das erste Mal, daß sie überhaupt gesprochen hatte, seit Lynley seinen Bericht begonnen hatte.
»Ich glaube, es war reiner Zufall.«
Lynley spießte mit der Gabel ein Stück Kalbfleisch auf. Er war im Crofters Inn angekommen, als St. James und Deborah gerade ihr Abendessen beendet hatten. Sie hatten zwar an diesem Abend den Speisesaal nicht für sich allein gehabt, doch die beiden Paare, die mit ihnen zusammengegessen hatten, waren zum Kaffee in den Salon für die Hotelgäste umgezogen. So hatte Lynley ungehindert erzählen können, nur ab und zu von Josie Wragg unterbrochen, die ihm Gang für Gang sein verspätetes Abendessen servierte.
»Seht euch die Fakten an«, fuhr er fort. »Sie war keine Kirchgängerin; abgesehen von den letzten Jahren hat sie im Norden gelebt, während er im Süden blieb; sie war dauernd auf Achse; immer wählte sie möglichst abgelegene Gegenden. Wenn irgendein Ort populärer zu werden drohte, ist sie stets weitergezogen.«
»Bis auf dieses letzte Mal«, warf St. James ein.
Lynley griff nach seinem Weinglas. »Ja. Es ist merkwürdig, daß sie nach Ablauf ihrer zwei Jahre hier nicht fortgezogen ist.«
»Vielleicht Maggies wegen«, meinte St. James. »Sie ist jetzt ein Teenager. Sie hat hier einen Freund, und nach dem, was Josie uns gestern abend mit ihrer gewohnten Leidenschaft für Details erzählt hat, scheint das eine ziemlich ernste Angelegenheit zu sein. Vielleicht hat sie sich geweigert, von hier wegzugehen.«
»Das
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