06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Garrity. »Wenn sie noch passierbar ist.«
»Einen Sechzehn-Kilometer-Marsch nach Nordwesten würden sie bei diesem Wetter niemals schaffen«, sagte St. James. »Aber wenn sie nach Osten gehen, haben sie Gegenwind. Es ist fraglich, ob sie da selbst die acht Kilometer schaffen könnten.«
Lynley richtete den Strahl seiner Lampe in die Dunkelheit jenseits des Wagens. Constable Garrity folgte seinem Beispiel und tat das gleiche in der anderen Richtung. Doch wenn Juliet Spence und Maggie Fußspuren hinterlassen hatten, so hatte der Neuschnee sie längst überdeckt.
»Kennt sie sich hier aus?« fragte Lynley. »War sie schon früher einmal hier draußen? Gibt es hier irgendwo eine Unterkunft?«
Er sah das Zucken, das über Shepherds Gesicht lief. »Wo?« fragte er.
»Es ist zu weit.«
»Wo?«
»Selbst wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit losgegangen sind, ehe es so stark zu schneien anfing...«
»Verdammt noch mal, Ihre Analysen interessieren mich nicht, Shepherd. Wo?«
Shepherd zeigte mehr in westlicher als in nördlicher Richtung. Er sagte: »Back End Barn. Das ist gute sechs Kilometer südlich von High Bentham.«
»Und von hier aus?«
»Direkt über das Moor? Vielleicht viereinhalb Kilometer.«
»Konnte sie das wissen? Ich meine, hier, als sie hier festsaß. Konnte sie das wissen?«
Lynley sah, wie Shepherd schluckte, alle Falschheit aus seinen Zügen wich und diese sich zu einer Maske der Hoffnungslosigkeit verhärteten. »Wir sind vier- oder fünfmal vom See aus dahin gewandert. Sie kennt sich hier aus«, sagte er.
»Und das ist die einzige Unterkunft hier?«
»Ja.«
Sie würde den Fahrweg finden müssen, der vom Stausee zum Knottend Well führte, erklärte er, eine Quelle, die auf halbem Weg zwischen dem Stausee und Back End Barn lag. Sie war normalerweise gut zu finden, aber eine falsche Wendung in der Dunkelheit, und sie würden sich im Schneetreiben verlaufen. Wenn sie den Weg jedoch fand, konnten sie ihm bis Raven's Castle folgen, wo die Wege zum Cross of Greet und zu den East Cat Stones zusammenliefen.
»Wo ist der Stall von dort aus?« fragte Lynley.
Ungefähr zweieinhalb Kilometer nördlich vom Cross of Greet. Er war nicht weit von der Straße entfernt, die High Bentham und Winslough verband.
»Ich verstehe nicht, warum sie nicht gleich mit dem Wagen dorthin gefahren ist«, schloß Shepherd, »anstatt hier herauszukommen.«
»Wieso?«
»Weil es in High Bentham einen Bahnhof gibt.«
St. James stieg aus dem Wagen und schlug die Tür zu. »Es könnte ein Täuschungsmanöver sein, Tommy.«
»Bei diesem Wetter?« meinte Lynley. »Das bezweifle ich. Da hätte sie schon einen Komplizen gebraucht. Ein zweites Fahrzeug.«
»Man fährt bis hierher, täuscht einen Unfall vor, fährt mit jemand anderem weiter«, sagte St. James. »Hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Selbstmordspiel.«
»Und wer soll ihr geholfen haben?«
Alle sahen Shepherd an. »Ich war mittags bei ihr draußen. Sie sagte mir, Maggie sei krank. Das war alles. Gott ist mein Zeuge, Inspector.«
»Sie haben vorher auch schon gelogen.«
»Jetzt lüge ich nicht. Sie hat mit dieser Panne nicht gerechnet.«
Er deutete mit dem Daumen auf das Auto. »Sie hat keinen Unfall geplant. Sie hat überhaupt nichts geplant. Sie wollte nur weg. Betrachten Sie es doch mal ganz sachlich. Sie weiß, daß Sie in London waren. Wenn Sage in London die Wahrheit entdeckt hat, dann wird Ihnen das auch gelingen. Sie flieht. Sie ist in Panik. Sie ist nicht so vorsichtig, wie sie sein müßte. Der Wagen kommt auf dem Eis ins Schleudern und landet im Graben. Sie versucht, wieder herauszukommen. Sie schafft es nicht. Sie steht hier auf der Straße, wo wir jetzt stehen. Sie weiß, sie könnte versuchen, über das Moor zur A65 zu kommen, aber es schneit, und sie hat Angst, sich zu verlaufen, weil sie den Weg nicht kennt, und das kann sie bei dieser Kälte nicht riskieren. Sie sieht sich in der anderen Richtung um und erinnert sich an den alten Stall. Nach High Bentham schafft sie es nicht. Aber sie glaubt, daß sie und Maggie den Stall erreichen können. Sie war früher schon dort. Also brechen sie auf.«
»Und vielleicht ist das genau das, was wir glauben sollen.«
»Nein! Verdammt noch mal, so ist es, Lynley. Das ist der einzige Grund, weshalb.«
Er brach ab. Er sah über das Moor.
»Der Grund, weshalb was?« hakte Lynley nach.
Shepherds Antwort wurde beinahe vom Wind fortgetragen. »Weshalb sie die Pistole mitgenommen hat.«
Das offene
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