06 - Denn keiner ist ohne Schuld
hab nicht klar gesehen. Ich hätte vorher merken müssen, daß dieser Mord mit dem Pfarrer überhaupt nichts zu tun hatte. Er war nur versehentlich das Opfer geworden.«
Lynley hatte noch zwei Seiten zu lesen, aber er faltete den Bericht zusammen und nahm seine Brille ab. Er steckte sie ein und reichte den Bericht Colin Shepherd.
»Sie hätten es vorher merken müssen - eine interessante Wortwahl. Heißt das, vor oder nach Ihrem Überfall auf sie, Constable? Und was sollte der übrigens? Wollten Sie ein Geständnis von ihr? Oder nur Ihr Vergnügen?«
Das Papier in seiner Hand hatte kein Gewicht. Er sah, daß es zu Boden gefallen war. Er hob es auf und sagte: »Wir sind hier, um über einen Mord zu sprechen. Wenn Polly die Tatsachen verdreht, um mich in Verdacht zu bringen, dann sollte Ihnen das doch einiges über sie sagen, meinen Sie nicht?«
»Mir sagen ganz andere Dinge etwas über sie - die Tatsache zum Beispiel, daß sie nicht ein Wort über den tätlichen Angriff verloren hat. Nicht ein Wort über Sie, Constable. Nicht eines über Juliet Spence. Sie verhält sich keineswegs wie eine Frau, die ihre Schuld vertuschen möchte.«
»Na und? Die Person, auf die sie es abgesehen hatte, lebt ja noch. Den anderen kann sie als dummen Fehler abhaken.«
»Und das Motiv, vermute ich, soll blinde Eifersucht sein. Sie halten wohl sehr viel von sich, Mr. Shepherd.«
Colins Gesicht wurde hart. »Ich würde vorschlagen, Sie halten sich an die Fakten.«
»Nein. Jetzt halte ich mich einmal an Sie. Hören Sie mir gut zu, denn wenn ich fertig bin, werden Sie Ihren Dienst bei der Polizei quittieren und Gott danken, daß das das einzige ist, was Ihre Vorgesetzten von Ihnen erwarten.«
Und dann begann Lynley zu sprechen. Er erwähnte Namen, die Colin nichts sagten: Susanna Sage und Joseph, Sheelah Cotton und Tracey, Gladys Spence, Kate Gitterman. Er sprach von plötzlichem Kindstod, einem weit zurückliegenden Selbstmord, einem leeren Sarg in einem Familiengrab. Er skizzierte den Weg des Pfarrers durch London und erzählte die Geschichte, die Robin Sage - und er selbst - detailgetreu zusammengetragen hatte. Am Ende breitete er eine schlechte Kopie eines Zeitungsartikels aus und sagte: »Schauen Sie sich das Bild an, Mr. Shepherd.«
Colin jedoch hielt seinen Blick auf den Gewehrschrank und die Flinten, die er am Nachmittag gereinigt hatte, gerichtet. Er wollte sie am liebsten benutzen.
Er hörte Lynley sagen, »St. James«, und dann begann der andere zu sprechen. Colin dachte, nein, ich will nicht und ich kann nicht, und beschwor ihr Bild herauf, um sich die Wahrheit vom Leib zu halten. Satzfetzen und Worte drangen hin und wieder durch: giftigste Pflanze der westlichen Hemisphäre... Wurzelstock... hätte gewußt... öliger Saft beim Anschneiden des Stengels... kann sie unmöglich zu sich genommen haben.
Mit einer Stimme, die so tief aus seinem Inneren kam, daß er selbst sie nicht recht hören konnte, sagte er: »Ihr war übel. Sie hatte davon gegessen. Ich war dabei.«
»Das trifft leider nicht zu. Sie hatte ein abführendes Mittel genommen.«
»Das Fieber. Sie war glühend heiß. Glühend!«
»Ich vermute, sie hatte auch etwas genommen, um ihre Temperatur in die Höhe zu treiben. Cayenne wahrscheinlich.«
Er fühlte sich niedergetrampelt.
»Sehen Sie sich das Bild an, Mr. Shepherd«, sagte Lynley.
»Polly wollte sie töten. Sie wollte sie aus dem Weg räumen.«
»Polly Yarkin hatte mit dieser Geschichte überhaupt nichts zu tun«, entgegnete Lynley. »Sie waren eine Art Alibi. Bei der gerichtlichen Untersuchung sollten Sie aussagen, daß Juliet Spence am Abend von Robin Sages Tod selbst erkrankt war. Sie hat Sie benutzt, Constable. Sie hat ihren Mann umgebracht. Sehen Sie sich das Bild an!«
Sah es ihr ähnlich? War dies ihr Gesicht? Waren dies ihre Augen? Es war mehr als zehn Jahre alt, die Kopie war schlecht, dunkel, unscharf.
»Das beweist gar nichts. Es ist ja nicht einmal scharf.«
Aber die beiden Männer waren gnadenlos. Eine simple Gegenüberstellung zwischen Kate Gitterman und ihrer Schwester würde zur Identifizierung ausreichen. Und wenn nicht, dann konnte man immer noch die Leiche Joseph Sages exhumieren und mit Hilfe von Gewebeproben genetische Vergleichsuntersuchungen vornehmen. Denn warum sollte die Frau, die sich Juliet Spence nannte, es ablehnen, sich oder Maggie untersuchen zu lassen, die Geburtsurkunde Maggies vorzulegen, alles Menschenmögliche zu tun, um ihre Identität zu beweisen, wenn sie
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