06 - Denn keiner ist ohne Schuld
sind?« fragte Shepherd.
»Dann suchen wir auf dem Moor.«
»Wie denn? Sie haben ja keine Ahnung, was da los ist. Sie können bei der Suche da draußen umkommen. Wollen Sie das wirklich riskieren? Für eine Mörderin?«
»Ich suche nicht nur eine Mörderin.«
Sie näherten sich der Verbindungsstraße zwischen High Bentham und Winslough. Die Entfernung von Keasden zu dieser Straßenkreuzung betrug knapp fünf Kilometer. Sie hatten für die Strecke fast eine halbe Stunde gebraucht.
Sie bogen nach links ab, Richtung Winslough. Auf dem nächsten Kilometer sahen sie hin und wieder Lichter aus Häusern, die weit abseits der Straße lagen. Das Land war hier von einer Mauer umfriedet, die wie ein weißer Schneekamm aussah, aus dem wie zackige Felsen hier und dort einzelne Steine aufragten. Dann waren sie wieder draußen auf dem Hochmoor, wo weder Zaun noch Mauer eine Grenze zwischen Straße und freiem Gelände bildete. Nur die Spuren eines schweren Traktors zeigten ihnen den Weg. In einer halben Stunde würden wahrscheinlich auch sie verschwunden sein.
»Es hört auf zu schneien«, bemerkte Shepherd. Lynley warf ihm einen raschen Blick zu, in dem der andere offenbar Ungläubigkeit las, denn er fügte hinzu: »Das ist hauptsächlich der Wind, der den Schnee herumbläst.«
»Das reicht auch.«
Doch als Lynley genauer hinsah, konnte er erkennen, daß Shepherd nicht nur den Optimisten spielte. Der Schneefall hatte tatsächlich nachgelassen. Was die Scheibenwischer jetzt noch wegzufegen hatten, wurde hauptsächlich durch den peitschenden Wind wieder vom Boden aufgewirbelt. Die Sicht war kaum besser als zuvor, aber die Verhältnisse würden sich wenigstens nicht weiter verschlechtern.
Endlich fielen die Scheinwerfer auf ein Gatter, das die Straße versperrte. »Hier. Der Stall ist rechts«, sagte Shepherd. »Gleich hinter der Mauer.«
Lynley konnte nichts erkennen.
»Dreißig Meter von der Straße entfernt«, sagte Shepherd. Er drückte die Tür auf. »Ich schau mal nach.«
»Sie tun, was ich Ihnen sage«, sagte Lynley. »Bleiben Sie, wo Sie sind.«
Shepherd war aufgebracht. »Sie hat eine Pistole, Inspector. Wenn sie wirklich hier ist, wird sie auf mich wahrscheinlich nicht schießen. Ich kann mit ihr sprechen. «
»Sie werden nichts dergleichen tun.«
»Aber überlegen Sie doch! Lassen Sie mich...«
»Sie haben schon genug angerichtet.«
Lynley stieg aus dem Wagen. Constable Garrity und St. James folgten ihm. Sie leuchteten mit ihren Taschenlampen in die Dunkelheit und sahen die Steinmauer, die rechtwinklig von der Straße abging. Mit ihren Taschenlampen folgten sie der Mauer und fanden die Lücke eines Tors. Auf der anderen Seite stand Back End Barn, ein Bau aus Stein und Schiefer mit einem großen Tor und einer kleineren Tür. Der Wind hatte den Schnee in hohen Wächten an der Fassade des Gebäudes aufgehäuft. Vor der Tür jedoch war eine der Wächten niedergetrampelt, von einem V-förmigen Einschnitt durchzogen.
»Sie hat es tatsächlich geschafft«, sagte St. James leise.
»Sie oder jemand anders«, erwiderte Lynley. Er blickte über seine Schulter nach rückwärts. Shepherd war aus dem Wagen gestiegen, stand jedoch gehorsam neben der Tür.
Lynley überlegte. Sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, Juliet Spence jedoch hatte eine Waffe. Er zweifelte kaum daran, daß sie sie benutzen würde, sobald sie sich von ihm in die Enge getrieben fühlte. Shepherd zu ihr hineinzuschicken, wäre in Wahrheit wirklich das Vernünftigste gewesen. Er war nicht bereit, ein Menschenleben zu riskieren, solange eine Chance bestand, sie ohne Schießerei da herauszuholen. Sie war schließlich eine intelligente Frau. Sie war ja überhaupt nur geflohen, weil sie wußte, daß die Wahrheit jeden Moment aufgedeckt werden würde. Sie konnte nicht hoffen, mit Maggie zu entfliehen und ein zweites Mal in ihrem Leben davonzukommen.
»Inspector.«
Constable Garrity drückte ihm etwas in die Hand. »Vielleicht sollten Sie das hier nehmen.«
Er blickte hinunter und sah, daß sie ihm ein Megaphon gegeben hatte. »Gehört zum Inventar des Wagens«, sagte sie. Sie machte ein verlegenes Gesicht, als sie mit dem Kopf zu ihrem Range Rover wies. »Sergeant Hawkins sagt, ein Constable muß immer wissen, was möglicherweise am Tatort oder in einer Notsituation gebraucht wird. Ein Seil habe ich auch da. Und Schwimmwesten. Da fehlt nichts.«
Sie zwinkerte ernsthaft hinter tropfnassen Brillengläsern.
»Sie sind ein Geschenk des
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