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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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zum Fenster und spähte in die Nacht hinaus. In der Gewißheit, daß sie sehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden, fühlte sie sich sicher. Unter ihr im Hof glotzten sie die Schatten des Ostflügels von Cotes Hall wie große schwarze Löcher an und boten jedem, der verborgen bleiben wollte, großzügigen Schutz. Mit zusammengekniffenen Augen prüfte sie ein schwarzes Loch nach dem anderen und versuchte auszumachen, ob die massige Gestalt drüben an der Mauer nur ein Eibenbusch war, der gestutzt werden mußte, oder ein Einbrecher, der versuchte, durch das Fenster einzusteigen. Sie konnte es nicht erkennen. Sie wünschte, ihre Mutter und Mr. Shepherd würden zurückkommen.
    Früher hatte es ihr nie etwas ausgemacht, allein zu Hause zu bleiben, aber schon bald nach ihrer Ankunft in Lancashire hatte sich in ihr eine Abneigung dagegen entwickelt, allein in dem Häuschen zu bleiben, ob nun bei Tag oder bei Nacht. Es war vielleicht kindisch, aber sobald ihre Mutter mit Mr. Shepherd davonfuhr, sobald sie in den Opel stieg, um allein wegzufahren, oder in den Wald ging, um Kräuter und Pflanzen zu suchen, hatte Maggie das Gefühl, daß die Mauern ihr immer näher rückten. Sie war sich dauernd ängstlich bewußt, daß sie auf dem riesigen Anwesen von Cotes Hall ganz allein war. Zwar wohnte Polly Yarkin gleich vorn an der Einfahrt, aber das war fast anderthalb Kilometer entfernt, und Polly würde sie bestimmt nicht hören, wenn sie schreien sollte, weil sie Hilfe brauchte.
    Da half es Maggie nicht viel zu wissen, wo ihre Mutter ihre Pistole aufbewahrte. Selbst wenn sie schon einmal zur Übung mit ihr geschossen hätte - was sie nie getan hatte -, konnte sie sich nicht vorstellen, die Waffe tatsächlich auf einen Menschen zu richten, geschweige denn abzudrücken. Deshalb vergrub sie sich statt dessen, wenn sie allein war, wie ein Maulwurf in ihrem Zimmer. Im Dunkeln wartete sie auf das Motorengeräusch oder das Knirschen des Schlüssels ihrer Mutter im Haustürschloß. Und während sie wartete, lauschte sie Punkins leisem Schnurren, das in gleichmäßigen Wellen von der Mitte ihres Betts aufstieg. Den Blick auf das kleine Bücherregal aus Birkenholz gerichtet, auf dem Bozo, der geliebte alte Stoffelefant, wie ein tröstlicher Hüter unter den anderen Stofftieren hockte, hielt sie ihr Album mit Zeitungsausschnitten und Pressefotos an sich gedrückt. Sie dachte an ihren Vater.
    Er existierte in der Phantasie, Eddie Spence, tot noch vor Erreichen seines dreißigsten Lebensjahrs, sein Körper so verstümmelt wie die Karosserie seines Rennwagens in Monte Carlo. Er war der Held einer nie erzählten Geschichte, auf die ihre Mutter nur ein einziges Mal angespielt hatte: »Daddy ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, Schatz«, und »Bitte, Maggie. Ich kann mit niemandem darüber sprechen.«
    Sie hatte zu weinen angefangen, als Maggie weitere Fragen hatte stellen wollen. Maggie versuchte oft, sein Gesicht aus der Erinnerung heraufzubeschwören, aber es gelang ihr nicht. So hielt sie denn das, was ihr von ihrem Vater geblieben war, in ihren Armen: die Fotos von Formel-Eins-Rennwagen, die sie ausschnitt und sammelte und mit Berichten über jeden Grand Prix in ihr Album einklebte.
    Sie warf sich auf ihr Bett, und Punkin rührte sich. Er hob den Kopf, gähnte und spitzte plötzlich die Ohren. Wie kleine Radarantennen drehten sie sich in Richtung Fenster, und mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung stand er auf und sprang lautlos vom Bett auf das Fensterbrett. Dort hockte er sich nieder, den zuckenden Schwanz um die Vorderpfoten gelegt.
    Vom Bett aus beobachtete Maggie, wie er, ähnlich wie sie selbst kurz zuvor, in den Hof hinunterblickte. Träge blinzelnd spähte er hinaus, während sein unruhiger Schwanz gegen die Fensterscheibe schlug. Aus den Büchern, die sie gelesen hatte, als er noch klein gewesen war, hatte sie gelernt, daß Katzen ein äußerst feines Gespür für jede Veränderung in ihrer Umgebung besitzen. Es beruhigte sie ein wenig zu wissen, daß Punkin ihr sofort mitteilen würde, wenn draußen etwas geschah, vor dem sie sich fürchten mußte.
    Nicht weit vom Fenster stand eine alte Linde. Ihre Äste knarrten. Maggie horchte angespannt. Zweige kratzten zitternd am Glas. Etwas rieb an der gefurchten Rinde des alten Baums. Es ist nur der Wind, sagte sich Maggie, doch noch während sie dies dachte, gab Punkin ihr das Zeichen, daß etwas nicht in Ordnung war. Er sprang auf und machte einen Riesenbuckel. Maggie klopfte

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