06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Bettpfanne und Nachtstuhl, von Erbrechen und Urin. Man erkennt, wie wichtig man für sie ist. Man ist ihr Anker und ihr Retter, man ist Vernunft und Normalität für sie. Alle Bedürfnisse, die man selbst hat, werden zur Nebensache - unwichtig, selbstsüchtig, gemein sogar - im Licht der Rolle, die man für sie spielt. Darum fühlt man sich, wenn es vorbei ist, wenn sie tot ist, gar nicht erlöst, wie alle glauben. Man fühlt sich vielmehr wie eine Form des Wahnsinns. Die anderen sagen einem, es sei ein Segen, daß Gott sie endlich zu sich genommen habe. Aber man weiß, daß es gar keinen Gott gibt. Es gibt nur diese klaffende Wunde im eigenen Leben, die Lücke, die sie hinterlassen hat, nun, da sie uns nicht mehr braucht und nicht mehr unsere Zeit in Anspruch nimmt.«
Sie goß ihm noch etwas von dem Getränk in sein Glas. Er wollte irgend etwas antworten, aber noch lieber wollte er aufstehen und davonlaufen, um nicht antworten zu müssen. Er nahm seine Brille ab - drehte seinen Kopf, anstatt sie einfach von seinem Nasenrücken zu ziehen -, und indem er das tat, gelang es ihm, seinen Blick dem ihren zu entziehen.
Sie sagte: »Der Tod ist für niemanden außer den Sterbenden eine Erlösung. Für die Lebenden ist er die Hölle, die nur ständig ihr Gesicht verändert. Man glaubt, es wird einem besser gehen. Man glaubt, eines Tages wird man den Schmerz loslassen können. Aber der Tag kommt nie. Niemals kann man den Schmerz ganz loslassen. Und die einzigen Menschen, die das verstehen können, sind die, die das gleiche durchgemacht haben.«
Natürlich, dachte er. Ihr Mann. Er sagte: »Ich habe sie geliebt. Dann habe ich sie gehaßt. Dann habe ich sie wieder geliebt. Sie brauchte mehr, als ich geben konnte.«
»Sie haben gegeben, was Sie konnten.«
»Am Ende nicht mehr. Ich war nicht stark, als ich stark hätte sein sollen. Ich habe mich an die erste Stelle gestellt. Als sie im Sterben lag.«
»Vielleicht hatten Sie schon genug ertragen.«
»Sie wußte, was ich getan hatte. Sie hat nie ein Wort gesagt, aber sie hat es gewußt.«
Er fühlte sich eingeengt, bedrängt. Er setzte seine Brille wieder auf. Er stand vom Tisch auf und ging zur Spüle, wo er sein Glas auswusch. Er sah aus dem Fenster. Es ging nicht zum Herrenhaus, sondern zum Wald hinaus. Sie hatte einen großen Garten angelegt, wie er sah. Sie hatte das alte Gewächshaus repariert. Ein Schubkarren stand daneben, anscheinend mit Mist gefüllt. Er stellte sich vor, wie sie ihn in der Erde verteilte, mit kräftigen, großen Bewegungen. Und sie würde dabei schwitzen. Sie würde innehalten, um sich die Stirn mit dem Hemdsärmel abzuwischen. Sie würde keine Handschuhe tragen - sie würde den hölzernen Stiel des Spatens fühlen wollen und die sonnenwarme Erde -, und wenn sie durstig war, würde das Wasser, das sie trank, ihr an den Mundwinkeln herabrinnen und ihren Hals befeuchten. Ein kleines Rinnsal würde zwischen ihre Brüste sickern.
Er zwang sich, sich vom Fenster abzuwenden und sie anzusehen. »Sie besitzen eine Schrotflinte, Mrs. Spence.«
»Ja.«
Sie blieb, wo sie war, nur ihre Haltung war verändert. Sie stützte jetzt den Ellbogen auf den Tisch und hielt mit einer Hand ihr Knie umfaßt.
»Und Sie haben gestern abend damit geschossen?«
»Ja.«
»Warum?«
»Das ganze Anwesen ist für Unbefugte gesperrt. Alle hundert Meter steht ein Verbotsschild, Constable.«
»Aber es besteht ein öffentlicher Fußweg, für den das Verbot nicht gilt. Das wissen Sie sehr wohl. Und Townley-Young ebenfalls.«
»Die Jungen waren nicht auf dem Fußweg zum Cotes Fall. Und sie waren auch nicht auf dem Rückweg ins Dorf. Sie waren im Wald hinter meinem Haus und schlichen sich zum Herrenhaus hinauf.«
»Wissen Sie das mit Sicherheit?«
»Aber ja, ich habe ja ihre Stimmen gehört.«
»Und Sie haben die Jungen zunächst durch Zuruf gewarnt?«
»Zweimal.«
»Sie haben nicht daran gedacht, telefonisch Hilfe zu erbitten?«
»Ich brauchte keine Hilfe. Ich mußte sie nur vertreiben. Und Sie müssen zugeben, daß mir das recht gut gelungen ist.«
»Mit einer Schrotflinte. Sie haben mit Schrot ins Dunkle geschossen. Da hätte leicht.«
»Es war Salz.«
Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Die Flinte war mit Salz geladen, Mr. Shepherd.«
»Und laden Sie sie manchmal auch mit etwas anderem?«
»Gelegentlich, ja. Aber wenn ich das tue, schieße ich nicht auf Kinder.«
Erst jetzt bemerkte er, daß sie Ohrringe trug, kleine goldene Stecker, in denen sich das
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