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06 - Denn keiner ist ohne Schuld

06 - Denn keiner ist ohne Schuld

Titel: 06 - Denn keiner ist ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Grünpflanzen, Wurzeln und Zweige in ihrem Korb und dazu eine kleine Schaufel und eine Gartenschere. Sie nahm die Schaufel heraus, schob einen Klumpen feuchter Erde von ihrer Spitze herunter und wischte sich die Finger an ihrer Jeans ab. Ihre Hände mit kurzgeschnittenen Nägeln waren groß und schmutzig. Sie sahen aus wie Männerhände. Sie sagte: »Kommen Sie mit ins Haus, Mr. Shepherd.«
    Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder im Wald. Allein rumpelte er das letzte Stück Straße hinunter, lenkte den Wagen im Hof über den knirschenden Kies und hielt schließlich im Schatten des Herrenhauses an. Als er zum Haus kam, hatte sie ihren Korb bereits weggestellt, sich den Schmutz von den Jeans gebürstet, sich die Hände so gründlich gewaschen, daß die Haut fast wundgescheuert war, und Wasser aufgesetzt. Die Haustür stand offen, und als er die einzige Stufe hinaufstieg, sagte sie: »Ich bin in der Küche, Constable. Kommen Sie herein.«
    Tee, dachte er. Fragen und Antworten in Schach gehalten vom Ritual des Einschenkens, des Weiterreichens von Milch und Zucker und einem geblümten Teller mit Keksen. Geschickt, dachte er.
    Aber anstatt Tee zu machen, goß sie das kochende Wasser langsam in einen großen Topf, in dem eine Anzahl Einmachgläser stand. Dann stellte sie den Topf auf den Herd.
    »Es muß alles steril sein«, erläuterte sie. »Es stirbt so leicht jemand, wenn die Leute so dumm sind zu glauben, sie könnten einkochen, ohne vorher zu sterilisieren.«
    Er schaute sich in der Küche um und versuchte, einen Blick in die Speisekammer auf der anderen Seite zu werfen. Merkwürdige Jahreszeit zum Einkochen, dachte er. »Was kochen Sie denn ein?«
    Statt einer Antwort ging sie zu einem Schrank und nahm zwei Gläser und eine Karaffe heraus, aus der sie eine Flüssigkeit einschenkte, deren Farbe etwa zwischen Schmutzigbraun und Bernsteingelb lag. Es war eine trübe Flüssigkeit, und als sie ein Glas damit vor ihn auf den Tisch stellte, an dem er sich, in dem Bemühen, Autorität zu demonstrieren, ohne Aufforderung niedergelassen hatte, hob er es mißtrauisch hoch und roch daran. Was für einen Geruch hatte das Zeug? Wie Baumrinde? Alter Käse?
    Sie lachte und trank einen kräftigen Schluck aus ihrem eigenen Glas. Sie stellte die Karaffe auf den Tisch, setzte sich ihm gegenüber und legte eine Hand um ihr Glas. »Trinken Sie nur«, sagte sie. »Es ist Löwenzahn und Holunder. Ich trinke es jeden Tag«
    »Und wozu ist es gut?«
    »Es reinigt.«
    Sie lächelte und trank wieder.
    Er hob das Glas. Sie beobachtete ihn. Nicht seine Hände, als er das Glas hob, nicht seinen Mund, als er trank, sondern seine Augen. Das war es, was ihm später auffiel, als er über ihre erste Begegnung nachdachte: daß sie nicht einen Moment ihren Blick von ihm abgewandt hatte. Er war selbst auch neugierig und sammelte erste Eindrücke von ihr: Sie war nicht geschminkt; ihr Haar begann grau zu werden, aber ihre Haut hatte kaum Falten, sie konnte also nicht viel älter sein als er; sie roch schwach nach Schweiß und Erde, und ein Schmutzfleck über ihrem Auge sah aus wie ein Muttermal; sie trug ein Männerhemd, übergroß, am Kragen zerschlissen und an den Manschetten ausgefranst; im Ausschnitt konnte er den Ansatz ihres Busens sehen; sie hatte starke Handgelenke; breite Schultern; er meinte, sie beide könnten die gleichen Sachen tragen.
    »Ja, so ist das«, sagte sie leise. Sie hatte dunkle Augen, mit Pupillen, so groß, daß die Augen selbst schwarz wirkten. »Anfangs ist es die Angst vor etwas, das größer ist als man selbst - über das man keine Kontrolle hat und das man nicht begreift -, das sich aus eigener Macht in ihrem Körper, dem Körper der eigenen Frau breitmacht. Dann kommt der Zorn, daß eine gemeine Krankheit ihr Leben und das eigene angegriffen und kaputtgemacht hat. Und dann folgt die Panik, weil niemand eine Antwort weiß, der man glauben kann, und weil einem jeder eine andere Antwort gibt. Dann folgt die tiefe Niedergeschlagenheit darüber, daß man mit ihr und ihrer Krankheit geschlagen ist, wo man doch nichts weiter wollte als eine Frau, eine Familie, ein ganz normales Leben. Dann kommt das Grauen darüber, im eigenen Haus mit dem Anblick, den Gerüchen und Geräuschen ihres Sterbens eingesperrt zu sein. Aber so seltsam es erscheinen mag, am Ende wird es alles Bestandteil des täglichen Lebens, der Art und Weise, wie man als Frau und Mann zusammenlebt. Man gewöhnt sich an die grausame Realität von

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