06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Licht fing, wenn sie den Kopf drehte. Sie waren ihr einziger Schmuck, abgesehen von einem Ehering, der, wie sein eigener, völlig schmucklos war und beinahe so schmal wie eine Bleistiftmine. Auch in ihm fing sich das Licht, wenn sie mit den Fingern ruhelos auf ihre Knie klopfte. Sie hatte lange Beine. Er sah, daß sie ihre Stiefel ausgezogen hatte und nur graue Socken trug.
Weil er irgend etwas sagen mußte, um bei der Sache zu bleiben, sagte er: »Mrs. Spence, Schußwaffen sind in den Händen von unerfahrenen Leuten ein gefährliches Spielzeug.«
Sie entgegnete: »Wenn ich die Absicht gehabt hätte, jemanden zu verletzen, hätte ich genau das getan, Mr. Shepherd, das können Sie mir glauben.«
Sie stand auf. Er erwartete, sie würde durch die Küche gehen, ihr Glas in die Spüle stellen, die Karaffe wieder im Schrank verstauen, sich in sein Territorium hineindrängen. Aber sie sagte nur: »Kommen Sie mit.«
Er folgte ihr ins Wohnzimmer, an dem er vorher schon, auf dem Weg zur Küche, vorübergekommen war. Das Nachmittagslicht fiel in breiten Streifen auf den Teppich, und Hell und Dunkel glitten über sie hinweg, als sie zu einer alten Kommode ging, die an der Wand stand. Sie zog die oberste linke Schublade auf. Sie nahm ein kleines Frotteebündel heraus, das mit einer Schnur gebunden war. Sie packte es aus, und ein Revolver kam zum Vorschein, der sehr sauber und gut geölt aussah.
Wieder sagte sie: »Kommen Sie mit.«
Er folgte ihr zur Haustür. Sie stand immer noch offen, und es wehte ein leichter frischer Wind, der ihr Haar erfaßte. Auf der anderen Seite des Hofs stand leer, mit verbretterten Fenstern, verrosteten Regenrinnen und bröckelnden Mauern das alte Herrenhaus.
Sie sagte: »Die zweite Schornsteinklappe von rechts. Ihre linke Ecke.«
Sie hob den Arm, zielte, drückte ab. Ein Terracotta-Splitter flog wie eine Rakete vom zweiten Schornstein weg.
Noch einmal sagte sie: »Wenn ich jemanden hätte verletzen wollen, dann hätte ich genau das getan, Mr. Shepherd.«
Damit kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und wickelte die Waffe wieder in den Stoff, der zwischen einem Nähkorb und mehreren Fotografien ihrer Tochter auf der Kommode lag.
»Haben Sie einen Waffenschein?« fragte er sie.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Das war nicht notwendig.«
»Aber es ist gesetzliche Vorschrift.«
»Da, wo ich das Ding gekauft habe, nicht.«
Sie stand mit dem Rücken an die Kommode gelehnt. Er blieb an der Tür. Er dachte daran, das zu sagen, was er eigentlich hätte sagen müssen. Er erwog, das zu tun, was das Gesetz von ihm erwartete. Sie besaß eine Handfeuerwaffe, ohne einen Waffenschein dafür zu haben, er hätte ihr die Waffe abnehmen und sie wegen illegalen Waffenbesitzes belangen müssen. Statt dessen sagte er: »Wozu benutzen Sie die Waffe?«
»Hauptsächlich zum Üben. Ansonsten zu meinem Schutz.«
»Vor wem?«
»Vor jedem, dem ein Zuruf oder ein Schuß mit der Büchse nicht genug ist. Es ist eine Form der Versicherung.«
»Sie wirken aber durchaus sicher.«
»Keiner, der ein Kind im Haus hat, ist sicher. Besonders nicht eine Frau allein.«
»Und der Revolver ist immer geladen?«
»Ja.«
»Das ist leichtsinnig. Das ist eine Herausforderung.«
Ein Lächeln zuckte flüchtig um ihren Mund. »Vielleicht. Aber vor heute habe ich ihn nie im Beisein anderer abgefeuert. Außer in Maggies Beisein.«
»Es war dumm von Ihnen, ihn mir zu zeigen.«
»Ja, das stimmt.«
»Warum haben Sie es dann getan?«
»Aus dem gleichen Grund, aus dem ich die Waffe überhaupt hier habe. Zum Schutz, Constable.«
Er starrte sie an. Sein Herz schlug schnell, und er fragte sich, wann das begonnen hatte. Irgendwo im Haus tropfte ein Wasserhahn, von draußen hörte er das schrille Tirilieren eines Vogels. Er sah die sachte Bewegung ihres Busens, den tiefen Ausschnitt ihres Hemdes, in dem ihre Haut zu glänzen schien, die straffe Spannung der Blue Jeans über ihren Hüften. Sie war ungraziös und verschwitzt. Sie sah verdreckt und unordentlich aus.
Er hatte nicht von ihr lassen können.
Ohne einen Gedanken machte er zwei große Schritte, und sie kam ihm in der Mitte des Zimmers entgegen. Er riß sie in seine Arme, tauchte seine Finger in ihr Haar und drückte seinen Mund auf den ihren. Er hatte nicht gewußt, daß es eine solche Begierde nach einer Frau überhaupt geben konnte. Hätte sie nur den geringsten Widerstand geleistet, so hätte er, das wußte er, sie gezwungen, aber sie widerstand nicht und wollte offensichtlich
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