06 - Denn keiner ist ohne Schuld
liegen. Nach dem Gespräch mit Constable Shepherd war er bereit gewesen, St. James' Befürchtungen hinsichtlich des Todes des Pfarrers als unbegründet abzutun. Ja, er war sogar so weit gewesen, das ganze Abenteuer als ein etwas übertriebenes Abkühlungsmanöver nach der morgendlichen Unstimmigkeit mit Helen zu sehen. Aber jetzt. »Erzähl«, sagte er.
St. James zählte ihm die Symptome auf: übermäßige Speichelbildung, Zittern, Krämpfe, Schmerzen im Unterleib, Vergrößerung der Pupillen, Delirium, Versagen der Atmung, völlige Lähmung. »Das Gift wirkt auf das zentrale Nervensystem«, schloß er. »Schon eine geringe Dosis kann einen Menschen umbringen.«
»Shepherd lügt also?«
»Nicht unbedingt. Sie ist eine Kräuterkundige. Das hat uns Josie gestern abend erzählt.«
»Und du hast es mir heute morgen erzählt. Das vor allem war der Grund, warum ich hier heraufgesaust bin wie Nemesis auf Rädern. Aber ich verstehe nicht, was.«
»Pflanzen sind genau wie Drogen, Tommy, und sie wirken auch wie Drogen. Sie regen den Kreislauf an oder das Herz, sie entspannen, sie führen ab, sie wirken schleimlösend. Kurz, sie tun all das, was auch die Mittel tun, die der Arzt dir verschreibt.«
»Du willst damit sagen, daß sie etwas genommen hat, um sich krank zu machen?«
»Sie hat etwas genommen, um Fieber herbeizuführen. Um Erbrechen herbeizuführen.«
»Aber ist es nicht möglich, daß sie auch etwas von dem Schierling gegessen hat, den sie für wilde Pastinake hielt, daß ihr dann, nachdem der Pfarrer gegangen war, übel wurde und sie irgend etwas eingenommen hat, um sich von dieser Übelkeit zu befreien, ohne sie mit dem Abendessen in Verbindung zu bringen? Das wäre doch eine Erklärung für das wiederholte Erbrechen. Und könnte das wiederholte Erbrechen nicht zu einer erhöhten Körpertemperatur geführt haben?«
»Möglich ist es, ja. Aber wenn es so gewesen sein sollte - und ich kann es mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, Tommy, vor allem nicht in Anbetracht dessen, wie schnell das Gift des Wasserschierlings wirkt -, hätte sie dann nicht dem Constable gesagt, daß sie etwas genommen hatte, weil ihr nach dem Essen nicht gut war? Und hätte uns das der Constable nicht heute erzählt?«
Lynley hob den Kopf und richtete den Blick wieder auf die Bilder an der Wand. Dort hing immer noch Alice Nutter und hüllte sich in hartnäckiges Schweigen. Wenn sie wirklich Geheimnisse gehabt hatte, so hatte sie sie alle mit ins Grab genommen. Ob es ihre Verachtung des Katholizismus war, der ihre Zunge lähmte, oder Stolz oder die zornige Gewißheit, daß sie von einem Richter ungerecht verurteilt wurde, wußte niemand. Doch in einem abgelegenen Dorf umgab eine Frau mit Geheimnissen, die sie nicht zu teilen bereit war, stets eine Aura des Geheimnisvollen. Und stets war da eine bösartige kleine Sucht, so einer Person etwas anzuhängen und sie auf diese Weise für ihre Eigenbrötelei bezahlen zu lassen.
»Wie auch immer, irgend etwas stimmt hier nicht«, sagte St. James. »Ich neige zu der Auffassung, daß Juliet Spence den Wasserschierling ausgrub, genau wußte, was es war, und ihn für den Pfarrer kochte. Aus welchem Grund auch immer.«
»Und wenn sie keinen Grund hatte?« fragte Lynley.
»Dann hat garantiert jemand anders einen gehabt.«
Nachdem Polly gegangen war, trank Colin Shepherd den ersten Whisky. Damit endlich die Hände aufhören zu zittern, dachte er. Er kippte das erste Glas hinunter. Der Whisky brannte wie Feuer in seiner Kehle. Aber als er das Glas auf den Beistelltisch stellte, klapperte es so heftig, daß es wie das Klopfen eines Spechts klang. Noch eins, sagte er sich. Die Karaffe schlug klirrend gegen das Glas.
Den nächsten trank er, um sich zu zwingen, daran zu denken. Great Stone of Fourstones, dann Back End Barn, der Schafstall. Der Great Stone war ein massiger Granitbrocken, ein Kuriosum dieser Gegend, mitten im wilden Grasland von Loftshaw Moss, ein ganzes Stück nördlich von Winslough. Dort hatten sie an jenem schönen Frühlingstag ihr Picknick gemacht. Back End Barn war ihr Ziel gewesen, als sie nach dem Essen wieder aufgebrochen waren. Die Wanderung war Pollys Vorschlag gewesen. Er hatte jedoch die Richtung gewählt, und er wußte, was dort wartete. Er, der diese Hochmoore seit seiner Kindheit durchstreifte. Er, der jede Quelle und jeden Bach kannte, der den Namen jedes Hügels wußte und jeden Steinhaufen finden konnte. Er hatte sie direkt zum Back End Barn geführt. Er hatte
Weitere Kostenlose Bücher