06 - Denn keiner ist ohne Schuld
geboten - wie schwierig das für sie angesichts ihrer Liebe auch gewesen sein mochte -, und er hatte sich von ihr abgewandt, immer wieder, weil er wie besessen war von dem Drang, sie zu strafen, weil ihm der Mut fehlte, sich das Schlimmste über sich selbst einzugestehen.
Nun hatte sie sogar den Ringstein herausgegeben, hatte ihn zusammen mit all ihren naiven Zukunftshoffnungen auf Annies Grab gelegt. Er wußte, daß sie es zur Buße getan hatte, in dem Bemühen, für eine Sünde zu bezahlen, an der sie nur geringen Anteil gehabt hatte. Es war nicht recht.
»Leo!« sagte Colin. Der Hund, der am Feuer lag, hob erwartungsvoll den Kopf. »Komm!«
Er nahm seine dicke Jacke und eine Taschenlampe. Er trat in die Nacht hinaus. Leo ging an seiner Seite, nicht angeleint, die Nase witternd erhoben, um die verschiedenen Gerüche aufzunehmen, die in der winterlichen Luft hingen: Rauch und feuchte Erde, die Abgase eines vorüberfahrenden Autos, frisch gebratener Fisch. Für ihn war der Abendspaziergang lange nicht so aufregend wie ein Marsch am Tag, wenn er Vögel jagen und hin und wieder ein Schaf mit seinem Kläffen erschrecken konnte. Aber es war besser als nichts.
Sie überquerten die Straße und traten in den Friedhof. Sie suchten ihren Weg zu der alten Kastanie. Colin leuchtete ihnen mit der Taschenlampe, Leo lief etwas rechts von ihm, außerhalb des Lichtkegels, schnuppernd vor ihm her. Der Hund wußte, wohin sie gingen. Sie waren ja schon oft genug hiergewesen. Er erreichte daher Annies Grab vor seinem Herrn und schnüffelte am Fuß des Grabsteins herum - und nieste -, als Colin sagte: »Leo! Nein!«
Er leuchtete auf das Grab. Und darum herum. Er ging in die Hocke, um genauer sehen zu können.
Was hatte sie gesagt? Ich habe Zedernholz für dich verbrannt, Colin. Ich habe die Asche auf ihr Grab gelegt. Ich habe den
Ringstein dazugelegt. Ich habe Annie den Ringstein geschenkt. Aber er war nicht hier. Und das einzige, was man mit einigem guten Willen als Zedernasche hätte sehen können, waren ein paar schwache graue Flecken auf der Rauhreifdecke. Gewiß, die konnten von der Asche stammen, wenn sie vom Wind fortgeweht und durch das Stöbern des Hundes aufgewirbelt worden war, aber der Runenstein konnte nicht vom Wind weggetragen worden sein.
Er ging langsam um das ganze Grab herum. Er wollte Polly glauben. Vielleicht hatte ja der Hund den Stein zur Seite geschoben. Er leuchtete den Boden rund um das Grab mit der Lampe ab und drehte jeden Stein um, der die passende Größe zu haben schien. Aber er fand nichts, und schließlich gab er auf.
Er lachte voller Hohn über seine Leichtgläubigkeit. Offensichtlich hatte sie das Erstbeste gesagt, was ihr in den Kopf gekommen war, um sich selbst gut hinzustellen, um wie immer zu versuchen, ihm die Schuld zu geben. Und gleichzeitig setzte sie alles daran - wie das auch alle anderen zu tun schienen -, ihn von Juliet zu trennen. Aber das würde nicht klappen.
Er senkte die Taschenlampe, so daß ihr Licht hell und weiß auf den Boden fiel. Zuerst blickte er nach Norden, in Richtung des Dorfs, wo die Lichter den Hang sprenkelten, so vertraut in ihrer Anordnung, daß er jede Familie hinter jedem Lichtpunkt hätte nennen können. Dann blickte er nach Süden, zum Eichenwald, hinter dem sich wie eine schwarz verhüllte Gestalt Cotes Fell vor dem dunklen Nachthimmel erhob. Und am Fuß des Bergs, halb versteckt in einer Lichtung, standen das Herrenhaus, Cotes Hall, und das Verwalterhäuschen, in dem Juliet Spence wohnte.
Wie dumm von ihm, wegen nichts hierher auf den Friedhof zu laufen! Er stieg über Annies Grab und war mit zwei großen Schritten bei der Mauer. Er übersprang sie, rief den Hund und wandte sich zum öffentlichen Fußweg, der vom Dorf nach Cotes Fell hinaufführte. Er hätte zurückgehen und den Rover holen können. Das wäre schneller gegangen. Aber er redete sich ein, daß er den Spaziergang jetzt brauchte, um sich in seiner Entscheidung ganz geerdet zu fühlen. Und gab es da eine bessere Möglichkeit, als die Erde selbst unter seinen Füßen zu spüren, das Spiel seiner Muskeln und den raschen Fluß seines Bluts?
Den Gedanken, der so beharrlich in sein Bewußtsein drängte, während er auf dem Pfad dahinging, schob er zur Seite: Wenn er in seiner Position auf Umwegen zum Verwalterhäuschen ging, so konnte man daraus nicht nur auf ein heimliches Stelldichein mit Juliet schließen, sondern außerdem auf ein geheimes Einverständnis zwischen ihnen. Weshalb nahm er den
Weitere Kostenlose Bücher