06 - Der Schattenkrieg
in Chicago keine Totenwache gab. Das war zwar eine irische Sitte, keine jüdische, aber Murray war sicher, daß Emil sich nicht daran gestoßen hätte, wenn zum Andenken an ihn die Gläser erhoben worden wären. Dan Murray hatte seine Frau bewogen, Mrs. Shaw auf die andere Seite der Kabine zu bugsieren, damit er sich neben Bill setzen konnte. Shaw fiel das natürlich auf, aber er wartete, bis die Maschine auf Reisehöhe war, ehe er die naheliegende Frage stellte.
»Was ist?« Murray reichte ihm den Bogen, der vor einigen Stunden aus dem Faxgerät des Flugzeugs gekommen war.
»Scheiße!« fluchte Shaw leise. »Doch nicht Moira!«
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Zielliste
»Irgendwelche Vorschläge?« meinte Murray und bereute das sofort.
»Also ehrlich, Dan!« Shaws Gesicht war für einen Moment grau geworden; nun sah er zornig drein. »Tut mir leid, aber gehen wir die Sache direkt an oder mit Glacehandschuhen?«
»Direkt.«
»Bei ihrer Vernehmung erklärte sie, niemandem etwas gesagt zu haben… mag ja sein, aber wen hat sie in Venezuela angerufen? Die Telefongesellschaft hat alle Gespräche festgehalten, die sie im letzten Jahr führte; Venezuela tauchte nie auf. Ich habe die Sache inzwischen weiter nachprüfen lassen. Der Anschluß, den sie anwählte, ist in einer Wohnung, und von diesem Telefon aus wurde wenige Minuten nach Moiras Anruf ein Gespräch mit Kolumbien geführt.«
»Mein Gott.« Shaw schüttelte den Kopf. Auf einen anderen Menschen wäre er nur wütend gewesen, aber Moira arbeitete schon seit Jahren für den Direktor.
»Vielleicht ist das nur ein harmloser Zufall«, räumte Murray ein, aber das verbesserte Bills Laune auch nicht.
»Wenn wir zurück sind, hole ich sie in mein Büro«, erklärte Bill Shaw, »und stelle sie zur Rede.« In Sergeant Bradens Haus wurden die durchsuchenden Kriminalbeamten fündig. Viel war es im Grunde nicht, nur eine Kameratasche; aber sie enthielt eine Nikon F-3 mit mehreren Objektiven. Das Ganze mußte acht- oder neuntausend Dollar wert sein; also mehr, als sich ein Polizeisergeant leisten konnte. Während die anderen Beamten weitersuchten, rief der leitende Mann bei der NikonVertretung an und ließ die Seriennummer der Kamera abgleichen für den Fall, daß der Besitzer sie zwecks Garantie hatte registrieren lassen. So war es auch; doch als dem Beamten der Name vorgelesen wurde, wußte er, daß er das FBI verständigen mußte.
Der Anwalt verstieß gegen ein Bundesgesetz, war aber der Ansicht, daß das Wohl seiner Mandanten wichtiger war. Er befand sich in einer jener Grauzonen, die weniger in juristischen Lehrbüchern als in den Urteilssammlungen der oberen Gerichte behandelt werden. Er war sicher, daß ein Verbrechen begangen worden war, auch überzeugt, daß man in diesem Fall nicht ermittelte und daß seine Offenlegung für die Verteidigung seiner Mandanten entscheidend sein konnte. Er rechnete nicht damit, erwischt zu werden, doch wenn man ihn schnappte, war das höchstens ein Fall für die Anwaltskammer.
Am Spätnachmittag wurde in der Unteroffiziersmesse des Stützpunkts wie üblich getrunken. Stuart hatte auf einem Flugzeugträger als Rechtsoffizier gedient selbst die Navy brauchte auf einer schwimmenden Stadt mit sechstausend Einwohnern ein paar Anwälte - und kannte die Bräuche der Seeleute. So erstand er die Uniform eines Coast-Guard-Mannes komplett mit den passenden Ordensbändern und marschierte einfach auf den Stützpunkt und in die Unteroffiziersmesse, wo sich niemand groß um ihn kümmern würde, solange er seine Getränke bezahlte. Nun brauchte er nur noch ein Mitglied der Besatzung des Kutters Panache zu finden. Er kannte die Namen und hatte sich bei einer Fernsehstation Bänder aus dem Archiv angesehen, um mit den Gesichtern vertraut zu werden. Und zu seinem Glück traf er Bob Riley, über den er mehr wußte als über die anderen Chiefs. Der Oberbootsmannsmaat hatte zehn heiße Stunden lang die Arbeiten an Deck beaufsichtigt und kam nun um halb fünf hereingeschlendert. Die Bardame sah ihn kommen und hatte schon ein Bier bereit, als er sich einen Hocker wählte. Ein halbes Glas und eine Minute später stand Edward Stuart neben ihm.
»Sind Sie nicht Bob Riley?«
»Der bin ich. Und Sie?«
»Sie erinnern sich bestimmt nicht mehr an mich. Ich bin Matt Stevens, den Sie auf der Mellon mal so zusammengeschissen haben. Aus mir würde nie was, haben Sie gesagt.«
»Sieht aus, als hätte ich mich geirrt«, stellte Riley fest und versuchte, sich an das Gesicht zu erinnern. »Nein, damals
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