Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
06 - Ein echter Snob

06 - Ein echter Snob

Titel: 06 - Ein echter Snob Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Chesney
Vom Netzwerk:
Hospital gebracht, und man hatte ihn gedrängt, endlich seinen lange
überfälligen Urlaub zu nehmen. Da er sich schwach und krank und hilflos fühlte,
war er in Portugal an Bord gegangen und hatte festgestellt, dass die Wohltaten
der Sonne und frischen Luft auf der angenehmen Heimreise schon genügt hatten,
um ihn wieder vollständig herzustellen. Aber er hatte Heimweh und brannte
darauf, England wiederzusehen. Und er hatte das Gefühl, dass es höchste Zeit
war, sich nach einer Frau umzusehen und für Erben zu sorgen. Dabei hatte er
ganz vergessen, wie ausgefallen die Kleidung und wie seltsam die Manieren der
Londoner Gesellschaft waren, die ihm jetzt zugleich merkwürdig und wunderbar
vorkam.
    Er hatte sogar vergessen, dass es
Mode war, bei jeder Gelegenheit ausgiebig zu weinen. Man erwartete von einem
Gentleman, dass er »standfest« war — das hieß, er musste mutig, kaltblütig und
zuverlässig sein. Aber man erwartete auch, dass er gefühlvoll war. Es war die
Zeit, in der Thomas Creevey in sein Tagebuch schrieb: »Im ganzen Haus kein
trockenes Auge«, womit er das Unterhaus meinte, in dem die Politiker
miteinander um die Wette weinten.
    Der Wetteifer im Weinen war aber
nicht auf die Männer beschränkt. Die glänzende und leichtfertige
Schriftstellerin Fanny Burney, die selbst eine Meisterin im Weinen war, konnte
es nicht ertragen, auf diesem Feld geschlagen zu werden, und war auf eine
gewisse Sophy Streatfield, die fähig zu sein schien, auf Wunsch in Tränen
auszubrechen, äußerst neidisch. Eine halbe Stunde bevor der Herzog bei White
eintraf, war ein älterer Lord tot umgefallen, und sämtliche Mitglieder des
Clubs heulten und schluchzten und weinten, als ob es sich um ihren liebsten,
engsten Verwandten handelte und nicht um einen mürrischen alten Herrn mit lockeren
Sitten, der seinem Schöpfer in einer Wolke von Brandy-Schwaden gegenübertrat.
    Der Herzog, an die harten Gesichter
und den unerschütterlichen Mut auf dem Schlachtfeld gewöhnt, war ziemlich
bestürzt und deshalb erleichtert gewesen, das einzige Clubmitglied, das nicht
weinte, nämlich Lord Mannering, im Kaffeesalon anzutreffen.
    Lord Paul war, genau wie der Herzog,
gerade in der Hauptstadt eingetroffen und erzählte, er habe Mrs. Bessamy in
der Pall Mall getroffen, und diese Dame habe ihn gedrängt, an ihrer kleinen
Gesellschaft teilzunehmen und auch Pelham mitzubringen.
    »Woher weiß sie denn, dass ich da
bin?« hatte der Herzog gefragt.
    »Weil ich ihr erzählt habe, dass ich
dir auf dem Weg nach London begegnet bin«, erklärte Lord Paul. »Sag doch zu!
London scheint mir ein verdammt merkwürdiger Ort zu sein, voller herausgeputzter
Männer und halbnackter Frauen.«
    Der Herzog fand die Idee gut, und er
hatte Rainbird gebeten, ihm sein Dinner schon um sechs Uhr zu servieren.
    Dieses Dinner hatte sich als ganz
ausgezeichnet erwiesen; das Haus war sauber und roch frisch; die Diener
erledigten ihre Arbeit schnell und ohne Aufheben. Der Geist seines toten
Vaters spukte nicht herum, um ihn heimzusuchen. Zum ersten Mal in seinem ganzen
Leben hatte er das Gefühl gehabt, wirklich zu Hause zu sein. Er wußte zwar, dass
er diesen Rainbird nach seinen radikalen Ansichten fragen sollte, aber
irgendwie brachte er es nicht über sich, die familiäre Atmosphäre zu verderben.
Ja, das war es! Er fühlte sich nicht wie der Herr in einem Haus voll fremder
Diener, sondern wie ein heißgeliebter Verwandter, der endlich nach Hause
gekommen ist. Seltsam! Er wünschte von ganzem Herzen, dass er nicht zugestimmt
hätte auszugehen.
    »Bist du gut untergekommen, Fergus?«
Endlich fiel ihm ein, seinen Diener zu fragen.
    »Ja, sehr bequem, Euer Gnaden.«
    »Sind die anderen Diener höflich zu
dir, und berücksichtigen sie deinen Rang als mein persönlicher Diener?«
    Fergus wandte sich ab, um ein
Grinsen zu verbergen. Er war der Meinung, dass dieses seltsame Häufchen Diener
in den unteren Wirtschaftsräumen im Grunde ihres Herzens gar keinen Rang
sonderlich beachteten. Und dann war da Alice. Die unschuldige, schöne,
goldhaarige Alice, die Dienstmagd, deren Stimme ihm so üppig wie die Sahne aus
Cornwall schien. Fergus verspürte plötzlich den Wunsch, sich mit Alices Augen
zu sehen, und lugte über die Schultern seines Herrn, um sich im Spiegel zu
betrachten. Er war mit seiner neuen Livree aus blassblauem Samt mit
Silbertressen bekleidet. Obwohl er erst fünfunddreißig war, bemerkte er, dass
ihn seine grau werdenden Schläfen älter machten. Vielleicht hilft

Weitere Kostenlose Bücher