06 - Ein echter Snob
wollte. Sie stand
da und schaute die Tür enttäuscht an. Dann erinnerte sie sich an einen
Liebesroman, in dem die Heldin das Türschloss ihres nasskalten Burgverlieses
mit einer Haarnadel geöffnet hatte. Sie kramte in ihrer Handtasche, zog eine
Hutnadel heraus und machte sich an dem Schloss zu schaffen.
Über ihr wurde das Gewitter immer
heftiger, und selbst das große Gebäude schien unter seiner Wucht zu wanken.
Ihre Manipulationen an dem Schloss hatten nicht den geringsten Erfolg. Aber
die Heldin in dem Buch hatte auch eine halbe Stunde gebraucht, bis die Tür
aufgesprungen war. Jenny beugte den Kopf über das Schloss und konzentrierte
sich noch mehr als zuvor darauf. Sie war so vertieft, und der Sturm heulte so
laut, dass sie nicht hörte, wie jemand die Treppe heraufkam. Der Herzog von
Pelham sah die kleine, dunkle, unbekannte Gestalt, die an dem Schloss
hantierte. Er nahm die letzten Stufen auf einmal, packte Jenny grob von hinten
und drehte sie zu sich herum.
»Wer sind Sie? Was zum Teufel tun
Sie hier?« fuhr er sie wütend an.
Jenny stieß einen Schrei aus und
schlug mit der Faust auf das Gesicht, das nur als undeutlicher weißer Fleck zu
erkennen war, ein. Der nächste gewaltige Blitz erhellte das Treppenhaus.
Der Herzog ließ die Arme hängen.
»Miss Sutherland!« rief er. »Was in aller Welt machen Sie denn hier?«
»Pelham. Ach du meine Güte«, sagte
Jenny. »Muss ich es Ihnen sagen?«
»Selbstverständlich.«
»Ich bin hergekommen, um Ihren
Dienern zu helfen. Ich kann Ihnen nicht verraten, wer es mir gesagt hat, aber
sie glauben, dass Ihr Verwalter Sie betrügt, und sind davon überzeugt, dass
sie es Ihnen beweisen könnten, wenn sie die Bücher fänden.«
»Bin ich ein solches Ungeheuer, dass
sie nicht in meinem eigenen Haus zu mir kommen und ihre Zweifel laut äußern
können?«
»Aber sehen Sie es denn nicht?«
sagte Jenny eifrig. »Es könnte sich herausstellen, dass Sie der Geizhals sind
und nicht dieser Palmer.«
»Ich habe all diesen Unsinn
gründlich satt. Gehen Sie zu Ihrer Kutsche und Ihrem Mädchen hinunter, Miss
Sutherland, und mischen Sie sich nicht wieder in meine Angelegenheiten ein.«
»Aber ich kann nicht«, jammerte
Jenny. »Ich habe meine Zofe nicht mitgebracht, und die Mietkutsche wollte nicht
auf mich warten.«
»Dann kommen Sie mit mir. Ich bringe
Sie zurück.« »Wollen Sie die Tür nicht öffnen?«
»Ich hatte vor, das Schloss
aufzuschießen. Das kann ich aber nicht, wenn Sie in Ohnmacht fallen und schreien.«
»Ich werde nicht in Ohnmacht fallen
und nicht schreien«, sagte Jenny, und ihre Wut auf den Herzog machte sie wieder
ganz mutig.
»Alle Frauen fallen beim Lärm von
Schüssen in Ohnmacht und schreien. Also gut. Ich warte auf den nächsten Donnerschlag.
Ich will nicht, dass die Nachbarn die Wache rufen.«
Jenny trat einen Schritt zurück. Ein
leuchtender Blitz zuckte über den Himmel, dann war es ganz still. Nach einem
einleitenden Grollen gab es einen ungeheuren Donnerschlag, den der Herzog
ausnützte, um auf das Schloss zu schießen.
»Zum Teufel«, hörte sie ihn murmeln.
»Bleiben Sie hinter mir, Miss Sutherland. Das war nur das eine Schloss. Ich muss
auf das andere auch noch schießen.«
Wieder warteten sie. Hoch über ihnen
trommelte der Regen auf das Dach.
Dann blitzte es wieder. Jenny
steckte sich diesmal die Finger in die Ohren.
Der Herzog verrechnete sich, und der
Schuss ertönte noch vor dem Donnerschlag.
Er stand einen Augenblick lang
lauschend da, dann stieß er die Tür mit dem Fuß auf.
Jenny ging hinter ihm hinein. Sie
hörte ihn eine Zunderbüchse reiben, und dann leuchtete die Petroleumlampe auf
Palmers Schreibtisch gelb auf.
Der Herzog hob die Lampe hoch und
schaute Jenny an. Obwohl ihr Gewand so schäbig war, bot sie ein romantisches
Bild mit den dunklen Locken, die sich unter ihrem Hut hervorkringelten. Ihre
großen Augen sahen in dem weißen Gesicht ganz schwarz aus.
»Setzen Sie sich«, sagte er, »und
beugen Sie den Kopf nach vorne. Ich kann mir nicht auch noch die Mühe machen,
Sie aus einer Ohnmacht zu erwecken, ich habe schon so genug um die Ohren.«
»Sie sind unhöflich und eingebildet,
und das habe ich Ihnen schon einmal gesagt«, rief Jenny und stampfte mit dem
Fuß auf. »Ich werde nicht ohnmächtig.«
»Dann suchen Sie sich einen Stuhl.
Setzen Sie sich hin und verhalten Sie sich ruhig. — Wie praktisch! Mein
Verwalter hat gerade an den Büchern gearbeitet.«
Der Herzog setzte sich an den
Schreibtisch seines
Weitere Kostenlose Bücher