06 - Geheimagent Lennet unter Verdacht
Sie unserer Gnade oder Ungnade völlig ausgeliefert sind. Diese Zelle besitzt nur eine Tür. Das Gefängnis, in dem sie liegt, ist eines der am besten bewachten unseres Landes. Außerdem kennen Sie unsere Sprache nicht.«
»Woher wissen Sie das?«
»Während Sie sich diese Zeitung angesehen haben, wurden Sie beobachtet. Sie sollten sich also dazu entschließen, mit uns auf die eine oder andere Weise zusammenzuarbeiten.«
Henri fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sprach dann weiter:
»Ich weiß, daß dies schwierig ist. Ich werde alles unternehmen, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen, diesen Schritt zu tun, sei es durch Freundlichkeit, durch Geduld oder auch durch Gewalt. Sie dürfen es mir glauben, ich habe für das zuletzt genannte Mittel nichts übrig, aber ich brauche Informationen, über die Sie verfügen, und ich werde den Preis zahlen, der notwendig ist, um sie zu erhalten. Sobald Sie unsere Neugier gestillt haben, denken wir daran, Sie gegen einige der Unseren, die die Franzosen gefangenhalten, auszutauschen.«
Er sprach in einem versöhnlichen, überredenden Ton. Lennet blickte um sich und sah ein, daß der Fremde recht hatte. »Na gut", sagte er und seufzte auf. »Sie haben mit hohem Einsatz gespielt und gewonnen. Mein Name ist François Brulard. Ich bin Inspektor bei der Direktion für Territoriale Sicherheit.« Henri deutete ein Lächeln an.
»Aber nein, aber nein", sagte er, »das war ein schlechter Anfang. Sie wurden schon seit mehreren Wochen von unseren Agenten in Frankreich beschattet, und wir kennen sehr genau Ihre Laufbahn. Ich werde mir nicht einmal die Mühe geben, Sie in dieser Hinsicht auszufragen. Was ich brauche, sind Auskünfte über Ihre Dienststelle, Ihre Agenten und Ihre Informanten.«
»Bilden Sie sich wirklich ein, daß ich Ihnen derartige Auskünfte geben werde?«
»Aber ja", antwortete Henri und lächelte noch gewinnender.
»Und ich werde Sie in einer Hinsicht sogar beruhigen können.
Indem Sie uns gegenüber ganz offen sind, werden Sie dadurch doch nicht Ihre Kameraden irgendwelchen Gefahren aussetzen.
Fünf Tage sind seit Ihrem Verschwinden verstrichen: ausreichend Zeit, um alle Codes des F.N.D., des Französischen Nachrichtendienstes, alle Decknamen und alle geheimen Treffpunkte zu ändern. Dennoch können sich die Informationen, zu denen Sie sich bereit finden würden, als wertvoll erweisen, da wir durch Vergleich mit anderen die entsprechenden Schlüsse aus ihnen ziehen werden.«
»Warum haben Sie mich so lange im Zustand der Bewußtlosigkeit gehalten?«
»Eine einfache technische Schwierigkeit: Mehrere Leute aus unseren Geheimdiensten legten Wert auf die Ehre, Sie zu verhören, und während die Regierung ihre Entscheidung traf, hat sie es für besser gehalten, Sie in einem Zustand zu belassen, in dem Sie nicht reden konnten.«
»Warum haben Sie meine Kameraden nicht auch mitgenommen?«
»Ach, dies alles ist fast zufällig geschehen. Eigentlich hatten wir die Absicht, Hauptmann Sourcier zu entführen. Er war es, auf den unser Kommandotrupp wartete. Nachdem unsere Leute Ihren Wagen angehalten und festgestellt hatten, daß ihnen ein Fehler unterlaufen war, haben sie wieder wegfahren wollen, ohne Sie anzugreifen. Aber die beiden Burschen, die im Laderaum des Lastwagens saßen, waren noch nicht verständigt.
So haben sie den Zusammenstoß herbeigeführt. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als die drei zu töten, denn wir haben keinerlei Interesse daran, Leute in untergeordneter Stellung gefangenzunehmen. Im letzten Augenblick hat der Fahrer, der Sie schon früher beschattet hatte, Sie erkannt und gedacht, wir wären immerhin doch ganz zufrieden, wenn wir anstelle des Hauptmanns Sourcier doch wenigstens Sie in unserer Hand hätten. Ist damit Ihre Neugier gestillt?«
»Ja, danke.«
»Dann schlage ich Ihnen vor, daß Sie nun damit anfangen, die meine zu stillen, Herr Leutnant Lennet vom F.N.D.«
Mit diesem letzten Schlag wurde der Wille des jungen Geheimagenten fast gelähmt. Wenn der Feind alles von ihm wußte, sogar seinen Namen, sogar den Namen seiner Dienststelle, was nützte es da noch, länger Widerstand zu leisten? War es nicht besser, alle Fragen zu beantworten, die man ihm stellen würde? Zumindest würde er damit den Gewalttätigkeiten entgehen, mit denen Henri ihm bereits gedroht hatte.
Lennet senkte den Kopf. Die Versuchung, sich zu ergeben, war sehr stark. Vielleicht wäre er ihr auch erlegen, wenn die erste Frage, die Henri ihm
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