06 - Geheimagent Lennet unter Verdacht
Frauen trugen schmale Masken und Abendkleider.
Lennet vernahm eine Stimme hinter sich und drehte sich um.
Auf einer der ersten Stufen einer Marmortreppe, die zum ersten Stock führen mußte, stand das entzückendste Mädchen, das Lennet jemals gesehen hatte. Sie war zart, schlank und blond und trug ein weißes, duftiges Kleid. Sie spielte mit ihrer schwarzen Maske, die sie soeben abgenommen hatte. Und sie redete in dieser verflixten, ihm unbekannten Sprache auf ihn ein!
Das Mädchen mit der Pistole
Da Lennet nicht antworten konnte, legte er geheimnisvoll einen Finger auf seine Lippen.
Sogleich kam das junge Mädchen mit leichten Schritten die Treppe herunter und ergriff seine Hand.
Einen Augenblick spürte Lennet, wie diese Hand die seine fester umfaßte, und er sah, wie die dunkelblauen Augen der Unbekannten mit einem Ausdruck der Angst in die seinen tauchten. Schon glaubte er sich entdeckt. Aber gleich darauf lächelte sie ihn mit einem etwas traurigen Lächeln an. Sie sprach mit singender Stimme einen langen Satz und zog Lennet in einen der großen Räume, wo getanzt wurde.
Walzertanzen war nicht gerade die Stärke des Geheimagenten. Er hatte keine Freunde und ging selten aus.
Daher begann er auf dem rechten Bein zu hinken. Mit verzerrtem Gesicht tat er dabei so, als müßte er seine Schmerzen unterdrücken. Diese List gelang ihm. Das junge Mädchen hörte sofort zu tanzen auf, ein Ausdruck der Unruhe trat in ihre Augen, und sie fragte ihn auf französisch:
»Ivor, was haben Sie mit Ihrem Bein?«
Henris richtiger Name war also Ivor. Aber kannte ihn das junge Mädchen so wenig, daß sie Lennet mit ihm verwechselte?
Hatte sie etwa den Betrug durchschaut und stellte diese Frage in französischer Sprache eine Falle dar? Warum hatte sie im übrigen anstelle jeder anderen Sprache ausgerechnet Französisch gewählt?
Wieder drückte Lennet einen Finger auf seine Lippen. In den dunkelblauen Augen, die ihn durch die Schlitze der Maske anblickten, die die Unbekannte wieder angelegt hatte, sah er, wie enttäuscht sie war.
Ein Diener, der nach alter französischer Mode gekleidet war - gepuderte Perücke, Livree, Kniehosen und Spangenschuhe kam mit einem Tablett mit Gläsern vorbei. Das schöne junge Mädchen nahm im Vorbeigehen ein Glas vom Tablett und reichte es Lennet:
»Trinken Sie, Ivor", sagte sie zu ihm. »Das bringt Sie wieder auf die Beine.«
Sie hatte eine melodische Stimme und die anmutigsten Bewegungen, die sich nur denken ließen.
Wo bin ich? fragte er sich. Eins ist klar: Henri-Ivor hat mich belogen. Dies hier ist kein Gefängnis, nicht einmal ein Mustergefängnis. Ist es das Haus eines reichen Mannes? Oder die Residenz eines Staatsoberhauptes? Was immer es sein mag, bestimmt wird sich der Eigentümer einen Telefonanschluß leisten können.
Nun kam es darauf an, sich der schönen Unbekannten unauffällig zu entledigen. Lennet verbeugte sich daher vor ihr so formvollendet wie nur möglich und entfernte sich zwischen den maskierten Paaren, die schwungvoll ihren Walzer tanzten, lachten, flirteten und sich auf die unbekümmertste Weise zu amüsieren schienen.
Ivor hatte also diesen Maskenball besucht, überlegte er. Das erklärte seinen Aufzug und seinen falschen Bart. Aber welch seltsamer Einfall, zwischen zwei Tänzen einen Gefangenen zu verhören, den man fünf Tage lang hatte ,verschimmeln' lassen.
Nachdem Lennet wieder den Mittelgang betreten hatte, sah er sich um. Die Unbekannte mit den dunkelblauen Augen war verschwunden. Er seufzte auf, vor Erleichterung und zugleich vor Enttäuschung. Zwei maskierte Herren, die sich mit den Ellbogen auf der Lehne eines Sofas aufstützten, standen in seiner Nähe und unterhielten sich auf französisch.
Wahrhaftig, dachte Lennet, man sagt mit Recht, daß Französisch eine internationale Sprache ist. Nicht einmal unsere Feinde verzichten darauf. Oder aber...
Ein neuer Gedanke stieg in ihm auf: Sollte ich mich dank eines unvorstellbaren Zufalls in der französischen Botschaft in einer fremden Hauptstadt befinden? Aber eigentlich ist das nicht sehr wahrscheinlich. Vor allem muß ich jetzt einmal ein Telefon finden.
Da er annahm, daß es im ersten Stock ruhiger zuginge, setzte Lennet entschlossen seinen Fuß auf die Marmortreppe, auf der er einige Minuten zuvor die schöne Unbekannte bemerkt hatte.
Er begegnete niemandem. Im ersten Stock gelangte er wiederum in einen breiten Gang, aber dieser war getäfelt und düster. Die Türen dort sahen sehr amtlich
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