06 - Geheimagent Lennet unter Verdacht
stellte, in seinem Gehirn nicht einen Sturm von Theorien, von verschiedenen Eingebungen und einander widersprechenden Einfallen ausgelöst hätte. Wenn er sich nicht völlig irrte, würde Frankreich ihn noch nötig haben.
»Ich möchte, daß Sie mir zuerst vom Unternehmen Damokles berichten", sagte Henri sehr sanft.
Das Unternehmen Damokles hatte immer nur in Lennets Phantasie existiert, und so konnte es nichts ausmachen, wenn er seinem Gegner die unwahrscheinlichsten Einzelheiten mitteilte.
Henri machte sich jedoch keine Notizen. Wahrscheinlich war irgendwo in der Zelle ein Tonbandgerät aufgestellt.
Seine Absicht war klar. Er hielt es für richtiger, Fragen nach dem Unternehmen Damokles zu stellen und nicht nach dem Französischen Nachrichtendienst. Er glaubte, der Geheimagent würde eher über die Einzelheiten einer Ermittlungsaktion reden, als daß er Auskünfte über die Organisation seiner eigenen Dienststelle gäbe.
Nachdem Lennet eine Stunde lang angeblich vertrauliche Mitteilungen weitergegeben hatte, hielt er inne. »Ich habe Hunger", wiederholte er.
»Sie haben sich Ihr Abendessen verdient", antwortete Henri und lächelte spöttisch.
In einer Lennet unbekannten Sprache sagte er, zum Wärter gewandt, einige Worte. Der Wärter ging hinaus. Lennet lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er erinnerte sich daran, daß er Henri und seinen Begleiter nicht hatte kommen hören.
Höchstwahrscheinlich war die Zelle also schalldicht gebaut.
»Ich habe Ihnen gesagt", fuhr Lennet fort, »daß es mir gelungen war, in die Organisation Damokles aufgenommen zu werden. Aber ich habe Ihnen noch nicht erzählt, wie sich ihre Mitglieder untereinander erkennen. Sie lassen sich einen kleinen Stern auf das linke Handgelenk unter dem Uhrenarmband eintätowieren.«
»Hat man auch Sie tätowiert?«
»Aber ja, sehen Sie mal.«
Lennet erhob sich, ging um den Tisch herum und hielt seine linke Hand Henri vors Gesicht. Henri beugte sich vor. »Ich sehe n...« begann er.
Er konnte den Satz nicht mehr beenden. Mit der Kante der rechten Hand hatte ihm Lennet einen Schlag in den Nacken versetzt. Henri sank bewußtlos zu Boden.
»Das wäre der eine!« murmelte der Geheimagent.
Er setzte Henri in einer etwas natürlicheren Stellung hin, den Kopf an die Stuhllehne gelehnt. Dann trat er neben die Tür, die nach innen aufging, und wartete.
Wieder öffnete sich die Tür, ohne daß er Schritte gehört hatte, und der Wärter trat mit einem Tablett ein. Lennet blieb hinter der Tür verborgen. Da der Wärter ihn nicht sah, blickte er suchend in der Zelle umher. Aber schon stürzte sich Lennet auf ihn: ein Schlag, und der Mann ging zu Boden.
»He! nicht so schnell!« rief Lennet, fing das Tablett auf und stellte es auf den Tisch.
Er schloß die Tür, nachdem er den Schlüssel aus dem Schloß an sich genommen hatte, und zog sich um, während er aß. Der Braten, der Salat, das Brötchen und die halbe Flasche Wein waren ihm sehr willkommen.
Lennet zog seine eigenen Sachen an und schlüpfte dann in den großen schwarzen Mantel Henris, der nun in einem Abendanzug dasaß. Nachdem er die letzte Scheibe Fleisch gegessen hatte, beendete Lennet seine Verkleidung mit Hilfe der Maske und des schönen blonden Bartes.
Ich frage mich wirklich, dachte er, warum Henri mir dieses Theater vorspielte. Aber wenn er bärtig eingetreten ist, so ist es nur natürlich, daß er auch bärtig wieder hinausgeht.
Er durchsuchte die Taschen der beiden Männer, aber er fand nichts Brauchbares. Schließlich mußte er ohne Waffe die Zelle verlassen, die er sorgfältig hinter sich wieder abschloß.
Er befand sich nun in einem engen Gang und am Fuß einer eisernen Treppe. Gleich neben der Zellentür bemerkte er ein eingeschaltetes Tonbandgerät und ein Guckloch.
»Was für ein komisches Gefängnis!« murmelte er.
Über sich hörte er Musik. Das muß wohl ein Mustergefängnis sein, dachte er.
Vier Stufen auf einmal nehmend, eilte er die eiserne Treppe hinauf. Sie endete an einer Eisentür, die sich ohne Mühe mit dem gleichen Schlüssel öffnen ließ.
Was werde ich auf der anderen Seite vorfinden? fragte sich Lennet.
Er machte sich auf einiges gefaßt, aber nicht auf das, was sich dann seinen Blicken bot.
Vor ihm erstreckte sich ein Gang, dessen Boden aus Marmorplatten bestand. Zwei Seitentüren führten in große Salons mit glänzendem Parkett, in denen rund fünfzig Paare tanzten. Alle Männer hatten den gleichen schwarzen Mantel an und waren maskiert; auch die
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