06 - Weihnacht
holen und mit seiner treuen Squaw zu vereinigen. Wir brechen morgen früh von hier auf und sind bereit, selbst unser Leben daran zu wagen, ihn dir zurückzubringen.“
Da sank sie laut weinend vor ihm in die Knie, um ihm für diesen Entschluß zu danken. Er ließ sie aber nicht zu Worte kommen, zog sie schnell wieder empor und sprach:
„Winnetou ist ein Mensch, und vor Menschen darf man niemals knien. Wenn meine weiße Schwester nicht wünscht, daß ich mich gleich entfernen soll, so mag sie ja kein einziges Wort des Dankes sagen!“
„Aber wie kann ich schweigen, wenn das Herz mir überfließt! Welch eine Botschaft für meinen armen Mann, wenn Ihr ihm diese Zeitung gebt! Er kennt Euer Gedicht auswendig, Mr. Shatterhand; er weiß, auf welche Weise ich es bekommen habe. Mir klingt der Anfang desselben heut so deutlich in die Ohren wie damals, als ich sie unter dem Christbaum zum erstenmal vernahm: ‚Ich verkünde große Freude, die euch widerfahren ist – – –!‘ Leider aber wird die Freude meines Mannes, wennauch unendlich groß, doch keine so fromme, zu Gott gerichtete sein, wie die meinige ist. Er ist ungläubig!“
Sie machte eine Pause, betrübt durch den soeben ausgesprochenen Gedanken; dann fuhr sie fort:
„Dieser sein Unglauben hat mich im stillen oft schwer gepeinigt. Ich habe deshalb täglich gebetet und mit Gott um Erhörung gerungen, aber die Erhörung dieser Bitte ist bis heute ausgeblieben. Der Umstand, das wir so schwer und doch so unverschuldet leiden mußten, hat meinen Mann um den Glauben gebracht und ihn vollständig von Gott abgewendet. Es ist mein heißes Flehen, daß er durch das Glück, welches uns nun wieder leuchtet, zu ihm zurückgeführt werde!“
„Laßt Eure Hoffnung ja nicht sinken, Mrs. Hiller!“ bat ich sie. „Die Wege des Herrn sind wunderbar, aber herrlich ist ihr Ende. Mir dürft Ihr das glauben; ich habe es schon sooft im Leben erfahren. Der Weg des Leidens, auf dem ich Euch begegnet bin, wird Euch zum Segen gereichen.“
„Das ist schon jetzt der Fall, Mr. Shatterhand. Ihr traft mich in einer Zeit, in welcher die Flut der Trübsal am reißendsten und tiefsten war. Ich wollte damals nach Graslitz zu einem Manne, den ich aus Rücksicht auf meine Sicherheit als unsern Verwandten bezeichnete; er war das aber nicht, sondern nur der Verwandte eines unserer Beamten. Ich hielt ihn für wohlhabend, hatte mich aber geirrt; auch war er von Graslitz fort, und wenn Ihr Euch nicht meiner erbarmt und mir Euer ganzes Geld geschenkt hättet, so lebte ich heute wohl nicht mehr.“
„Uff!“ sagte da Winnetou, indem er die Hand leicht gegen mich erhob. „Mein Bruder Scharlih hat also doch geholfen, obgleich er es mir vorhin verschwieg! Ich kenne ihn ja!“
Ich richtete, um ihn nicht weitersprechen zu lassen, die Frage an Frau Hiller:
„Hat Euch der Empfehlungsbrief meines damaligen Gefährten Carpio etwas genützt?“
„Nein. Ich nahm ihn nur, um den jungen Mann nicht zu kränken. Kennt Ihr den Adressaten, an den er gerichtet war?“
„Nein.“
„Es war ein Mr. Lachner in Pittsburg. Mein Weg führte mich dann durch diese Stadt, und ich erkundigte mich nach ihm. Er war wohlhabend geworden durch Gefälligkeiten, für welche man ihm zehnfache Zinsen zu bezahlen hatte. Man bezeichnete ihn als einen der schlimmsten von der Art Menschen, welche der Engländer Cut-purse (Beutelschneider) und der Amerikaner Throat-cutter (Gurgelabschneider) nennt. Ich hütete mich natürlich, den Brief abzugeben.“
Also ein Gurgelabschneider war jener geheimnisvolle Verwandte meines Carpio! Die drei bekannten Blitze ‚Eldorado–Millionär–Universalerbe‘ kamen mir jetzt nicht so leuchtend vor wie in damaliger Zeit, wo ich mich aber auch schon mit stillen Zweifeln über sie herumgetragen hatte.
Was im Laufe der Unterhaltung weiter gesprochen wurde, kann ich übergehen, weil es von keinem Einflüsse auf unsere späteren Erlebnisse war. Heute abend noch einmal mit mir herzukommen, mutete ich Winnetou nicht zu, und so bat uns Mrs. Hiller, uns für eine Minute im Hotel aufsuchen zu dürfen, um uns einen Brief für ihren Mann zu bringen. Wir gaben die Zeit an, wann wir da sein würden, und verabschiedeten uns sodann.
Das Hotel war in seinen öffentlichen Räumen förmlich gestopft voll Menschen, als wir dort ankamen. Watter hatte, auf uns wartend, am Fenster gesessen und kam uns entgegen, als er uns sah.
„Mesch'schurs“, sagte er. „Ich gehe fort, um den Prayer-man zu verfolgen,
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