06 - Weihnacht
hat und morgen schon im Schnee steckenbleibt. Ein vorsichtiger Mann muß darauf rechnen, daß er nicht wieder herunter kann, sondern gezwungen ist, den ganzen Winter in irgendeinem abgelegenen Gebirgswinkel zuzubringen. Was soll da mit so vielen Leuten werden? Ich bin überzeugt, daß die meisten von ihnen verhungern würden.“
„So lange wird es dauern? Mein Gott! Da machen Sie mir ja schon wieder Angst!“
„So lange kann, nicht wird es dauern. Ich bin gewohnt, mit allen Möglichkeiten und Zufällen zu rechnen, und habe nur aus dem Grunde davon gesprochen, weil Sie sich alles leichter denken, als es ist, und außerdem der Meinung waren, daß ein größerer Trupp auch die größere Aussicht auf Erfolg besitze. Es findet aber vielmehr grad das Gegenteil statt. Wir, nämlich Winnetou und ich, haben die größten Gefahren und schwierigsten Lagen oft nur deshalb überwinden können, weil wir allein waren. Wir kennen uns genau und wissen, daß wir aufeinander rechnen können; bei einer großen Gesellschaft aber gibt es viele Köpfe und viele Sinne, und es gibt da Ärgernisse, Fehler und Dummheiten, über welche man aus der Haut fahren könnte. Ich wiederhole, was ich schon gesagt habe. Sie dürfen durchaus nicht auf die Erfüllung Ihres Wunsches rechnen, daß wir unsern bisherigen Plan ändern und nach dem Westen zurückkehren werden, um die Krähen aufzusuchen, aber wenn wir es je täten, so können Sie sicher sein, daß wir einen jeden, der sich anböte, uns zu begleiten, abweisen würden.“
„Sie wollten den weiten, gefahrvollen Ritt ganz allein unternehmen?“
„Ja.“
„Sie zwei gegen einen ganzen Stamm? Das ist doch unmöglich!“
„Es wäre nicht zum erstenmal, daß wir grad dadurch unsern Zweck erreichen!“
„Aber die vielen Gewehre, welche der Häuptling verlangt hat und die also mitgenommen werden müssen, die können Sie da doch nicht mit sich schleppen!“
„Allerdings nicht. Es würde uns auch gar nicht einfallen, den Gefangenen loszukaufen, sondern wir würden ihn auf eine Art und Weise herausholen, die keinen Penny Kosten macht. Die Krähen, anstatt sie zu bestrafen, für ihre Feindschaft auch noch mit einer solchen Menge von Gewehren zu belohnen, das käme uns keinen Augenblick in den Sinn! Sie hören, daß wir die Sache ganz anders anfassen würden, als es vielleicht von Ihren mehr als hundert Westmännern und Kennern geschähe, und das wäre uns nur dadurch möglich, daß wir uns um keinen unnützen Kameraden zu bekümmern brauchten.“
„Ich kann gar nichts dazu sagen, denn ich verstehe nichts davon; aber ich bin überzeugt, daß das, was Sie für gut halten, auch gut ist, wenn auch mein Mann seine Wanderungen niemals allein, sondern stets in möglichst zahlreicher Begleitung unternommen hat.“
„Das ist etwas ganz anderes. Sein Zweck war die Pelztierjagd und dazu der Handel mit den Indianern. Da brauchte er schon zum Transporte der Felle, den er allein nicht hätte bewältigen können, die ausreichende Beihilfe anderer Leute. Wir aber verfolgen auf unsern Ritten ganz andere Ziele, und wenn es sich gar darum handelt, durch List etwas zu erreichen, was mit Hilfe der offenen Gewalt große Opfer fordern würde, so müssen wir uns verborgen halten, was gar nicht möglich wäre, wenn wir uns in zahlreicher Gesellschaft befänden. Nun aber ist meine Zeit abgelaufen, und wenn Sie gestatten, will ich mich an meine Arbeit begeben.“
„Für die ganze Nacht hindurch? “
„Ja.“
„Ist das nicht zu anstrengend?“
„Für mich nicht. Ich bin es nicht ungewohnt, sogar mehrere Tage und Nächte hindurch den Schlaf ganz zu entbehren. Die Natur richtet sich danach ein oder wird gezwungen, sich zu fügen.“
„Soll ich nach St. Louis telegraphieren?“
„Nein. Warten Sie damit, bis Winnetou kommt! Wir wollen sehen, welcher Meinung er ist.“
„Ich bin überzeugt, daß er nicht das Herz hat, uns seine Hilfe zu versagen.“
„Na, na! Der Mensch soll niemals mit allzu großer Sicherheit auf die Erfüllung seiner Wünsche rechnen!“
„Oh, Sie stellen sich ja nur so, als ob ich zweifeln müsse; im Grunde genommen aber sind Sie schon entschlossen, bei dem Häuptling ein gutes Wort für uns einzulegen. Ich fühle das und sehe es Ihnen auch an.“
„Da warne ich Sie. Lassen Sie sich weder durch Ihr Herz noch durch Ihren Scharfsinn täuschen! Und nicht wahr, Sie verschweigen, daß Old Shatterhand sich hier befindet?“
„Wenn Sie es wollen, ja. Lieber aber möchte ich es allen
Weitere Kostenlose Bücher