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die mir etwas bedeuten, mich haben hängen lassen, als ich sie am dringendsten gebraucht hätte?"
„Ich glaube, dein Tod war die Zeit, als du uns am dringendsten gebraucht hast", verbesserte sie mich. „Und die Einzigen, die dich damals hängen ließen, sind jetzt unter der Erde."
Das stimmte, aber ich war nicht in der Stimmung für Logik. „Und du hast dich nicht einmal verabschiedet. Ich weiß, dass du sie nicht mochtest, aber dass du so weit gehst!"
Und warum schrien wir uns im Foyer an? Vielleicht war ich 27
immer noch zu wütend, um nette Konversation zu machen, auch nicht mit Mom, die ich liebte. Wie hätte ich auch nicht jemanden lieben können, der seine Tochter mit offenen Armen empfing, wenn sie von den Toten wiederauferstand!
„Jemand musste auf deinen Sohn aufpassen", gab sie scharf zur Antwort.
„Und es ist ja nicht so, als hättest du keine Freunde. Wo sind die eigentlich alle?"
„Das ist die Frage des Tages", brummelte ich. Auf keinen Fall würde ich erzählen, dass Sinclair und ich gerade Streit hatten -sie mochte ihn sogar noch mehr als mich, wenn das überhaupt möglich war. Und sie würde sich um Jessica zu Tode sorgen. Marc und Laura kannte sie nicht gut genug und die anderen überhaupt nicht. Dann erst begriff ich den vollen Sinn ihrer Worte.
„Jemand musste auf meinen was aufpassen?"
„Jon."
„Was?"
Sie deutete auf meinen Halbbruder, als hätte ich vergessen, dass ich ihn in den Armen hielt. Das hatte ich auch tatsächlich. „Dein Sohn. Die Testamentseröffnung? Gestern?"
„Du weißt ganz genau, dass ich nicht anwesend war. Meine Nägel sahen furchtbar aus, und es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Ant meinem Vater erlauben würde, mir irgendetwas zu vermachen. Also bin ich zur Maniküre ins Wine Cordial gegangen."
Meine Mutter seufzte, so wie sie früher immer geseufzt hatte, wenn ich ihr beim Frühstück wieder einmal gestanden hatte, dass ich gleich meine Hausaufgaben vorzeigen müsste und noch nicht einmal damit angefangen hatte. „Im Falle ihres Todes bist du sein Vormund. Sie sind tot. Ergo?"
„Aber, aber .. " Baby Jon gurrte und zappelte und sah aus, als sei er recht zufrieden mit der jüngsten Entwicklung. Ich wusste nicht, ob ich begeistert oder entsetzt sein sollte. Ich
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entschied mich für entsetzt. „Aber so wollte ich kein Baby bekommen."
„Wie wolltest du kein Baby?"
„So ... du weißt schon. Durch einen Todesfall."
Mom runzelte die Stirn. „Wie bitte?"
„Ich meine, ich wollte mein eigenes Kind. Mein Baby und Sinclairs."
„Nun, jetzt hast du dieses hier", sagte sie völlig ungerührt von meiner Panik.
„Aber ..."
„Und du hast ohne Zweifel die Mittel, ihn ordentlich großzuziehen." „Aber .. "
„Obwohl ich mich frage, ob er vielleicht mit Tag und Nacht durcheinanderkommt - mit euch als Eltern?"
„Ist das etwa die Frage, die dir am meisten auf den Nägeln brennt? Mir fallen sofort zig andere ein, die ein wenig dringender wären!"
„Liebes, schrei nicht so. Ich habe nichts an den Ohren." „Ich bin nicht bereit für so etwas!"
„Du schreist immer noch. Und niemand ist jemals bereit, Liebes." Sie hüstelte.
„Lass dir das gesagt sein." „Ich schaffe das nicht!" „Das sagen alle zu Beginn."
„Aber ich schaffe das wirklich nicht, auf keinen Fall!" „Und das sagen auch alle. Die ersten zwanzig Jahre zumindest."
Ich streckte ihr Baby Jon entgegen, als würde ich eine Platte mit Horsd'ceuvre anbieten. „Nimm du ihn!"
„Meine Liebe, dafür bin ich entschieden zu alt."
„Bist du gar nicht!", rief ich fast schon hysterisch.
Meine Mutter warf mir einen düsteren Blick zu. „Die Zeiten, 28
in denen ich Kinder großgezogen habe, sind vorbei. Du dagegen wirst auf ewig jung sein und Menschen um dich herum haben, die dich unterstützen, eine reiche beste Freundin, einen netten Bald-Ehemann, eine gesetzliche Vormundschaft und du bist mit ihm verwandt."
„Und das soll mich zu einer guten Mutter machen?"
„Herzlichen Glückwunsch", sagte sie und hielt mir das Baby ins Gesicht. Seine großen blauen Glubschaugen weiteten sich und sein Mund formte ein sabberiges O. „Es ist ein Junge. Und jetzt muss ich gehen."
„Du gehst?" Fast hätte ich gekreischt.
„Ich muss heute Nachmittag deinen Großvater im Pflegeheim besuchen. Du erinnerst dich doch noch an deinen Großvater, Liebes? Bevor du andere der Vernachlässigung beschuldigst."
„Ich kann nicht glauben, dass du mich hier so stehen lässt! Ich sage nur zwei Worte,
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