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durch die Chemo beschwert. Vielleicht sollte ich dich mal zu ihr schicken, damit du sie ein bisschen aufmunterst."
„Da bin ich wohl in ein Fettnäpfchen getreten", sagte Mom und klang so sehr wie ihr altes freundliches Selbst, dass ich fast schwach geworden wäre. „Nicht nur, dass ich ungerecht war, mein Timing ist auch noch mies, oder? Nun, du hast recht, es tut mir leid. Kann ich dir noch auf andere Weise behilflich sein als", sie blickte finster auf Baby Jon hinab, „mit dem hier?"
„Red keinen Unsinn, Mom, ich weiß doch, wie hart du diesen Monat arbeiten musst, wo doch dein Fachbereich diesen Sommer keine Kurse gibt."
„Na schön." Sie setzte sich in Richtung Flur in Bewegung. „Wenn du dir ansehen möchtest, wie ich auf den Knien vor dir krieche, dann sag Bescheid.
Bis dahin, mein Schatz, ruf mich einfach an, wenn du etwas brauchst. Und, ja, ich weiß, dass es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, wenn ich dich nach diesem Streit ermuntere, mich anzurufen."
„Gut, dass du es selber eingesehen hast!", schrie ich ihr nach.
Während ich darauf wartete, dass man mich zu Jessicas Zimmer durchstellte, dachte ich über die Verkettung von Umständen nach, die dazu geführt hatte, dass meine Mutter nun das jüngste Kind ihrer toten Rivalin babysittete. Ich hatte meine Mutter nicht gerne angerufen, schließlich war ich nicht völlig unsensibel. In diesem Fall zumindest. Und ich hatte Laura nicht erreicht. .
wahrscheinlich weil sie gerade mit meiner Mutter am Telefon sprach. Schien so, als hätten sie heute auf jeden Fall ein gemeinsames Gesprächsthema: Baby Jon.
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Aber zurzeit war Baby Jon hier nicht mehr sicher. Ich selbst war hier nicht mehr sicher. Wenn ich meine eigene Sicherheit aufs Spiel setzte, war das mein Problem. Aber nicht Baby Jons, der möglicherweise das einzige Baby war, das jemals ganz mir gehören würde.
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Irgendein Pfleger weigerte sich, mich zu Jessica durchzustellen (warum funktionierte meine Vampirhypnose nicht über das Telefon?), also missachtete ich Tinas Anweisungen (was gut zum Rest der Woche passte), sprang in einen von Sinclairs Volkswagen (mein Ford war in der Werkstatt, denn er brauchte einen neuen Anlasser) und fünfzehn Minuten später kam ich beim Minneapolis General an. (Das war einer der Vorteile, die wir Untoten hatten - wir standen nie im Stau.)
Klar, nach 22 Uhr abends war die Besuchszeit längst vorbei, aber das war mir scheißegal. Selbst wenn ich noch am Leben wäre, wäre mir das egal gewesen.
Weil ich, Betsy Taylor, nämlich ein Ex-Model war! Wenn man aus einem VIP-Bereich nicht rausfliegen wollte, musste man nur selbstbewusst ausschreiten und so tun, als gehöre man dorthin - das war der ganze Trick (den ich in der ersten Woche als Model lernte, als ich auf die Art Backstage-Ausweise für Aerosmith bekam). Wenn man groß war, half das auch weiter. Und hübsch.
Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich gute Gene habe. Diese nicht zu nutzen wäre, als würde eine begabte Malerin ihre Pinsel wegwerfen.
Oder als würde Jessica nichts von ihrem Geld ausgeben, nur weil sie es von ihrem Vater geerbt hatte und der ein Drecksack gewesen war. Warum sollte ich mir das Leben schwerer machen, als es war, indem ich nicht nutzte, was ich besaß?
Also schritt ich durch den Krankenhausflur zu Jessicas Zimmer, nachdem ich es schon an der Anmeldung und an mehreren
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Schwesternzimmern vorbei zu den Aufzügen geschafft hatte und nun ungefähr noch zehn Meter zwischen mir und meinem Ziel lagen ..
„Entschuldigung? Die Besuchszeit ist vorbei."
Ich wandte mich um und lächelte. Der Hüter der Besuchszeit lächelte zurück.
Mein Lächeln wurde noch breiter, als ich entdeckte, dass der Pfleger keinen Ehering trug. Er sah süß aus - ungefähr 1,90 Meter groß, lockiges schwarzes Haar, kurz geschnitten, makellose dunkle Haut wie teurer Kaffee. Große wunderschöne Augen, das Weiße fast bläulich vor lauter Gesundheit. Er roch nach Zuckerwatte und Pommes frites. Zwei meiner Lieblingsspeisen!
Also grinsten wir uns an wie Idioten, bis ich mich daran erinnerte, dass ich nicht ohne Grund hier stand - und er ebenso wenig.
„Tut mir leid, dass ich so hart sein muss, aber die Besuchszeit ist schon lange vorbei. Aber wenn Sie Ihre Telefonnummer dalassen wollen, dann rufe ich Sie an, wenn wir wieder für Besucher geöffnet haben."
Seine Dreistigkeit amüsierte mich. T. Starr, Krankenpfleger, stand auf seinem Namensschildchen. „Ich heirate in einigen Tagen, T.
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