060 - Bis zum letzten Schrei
zu diesem Augenblick keine Ahnung gehabt hatte.
Noch größer
war sein Erstaunen, als er den Burgherrn vor seinen Füßen liegen sah.
Soiger
stellte die Petroleumlampe am Boden ab und zog Gerard Tullier in das von dieser
Seite der Burg erreichbare Gewölbe.
»Monsieur?«
fragte André Soiger angsterfüllt. Er nahm den Kopf Tulliers vom eiskalten Boden
hoch und schlug mehrmals leicht auf dessen Wangen.
Tullier
stöhnte leise. Es dauerte zwei Minuten, ehe er den frischen Luftzug auf seinem
bleichen Gesicht spürte, ehe er die Augen aufschlug und den treuen Burgaufseher
erkannte.
»Soiger? Wie
kommen Sie… hierher?«
Das war
schnell erklärt. Auch Tullier gab eine Schilderung. Die beiden Männer kamen
überein, daß Monika Sommer durch geheimnisvolle Hand von dieser Stelle aus in
den finsteren Schlund gezogen und dort umgebracht worden war.
Tullier war
noch so beeindruckt, daß ihm der musternde, ungläubige Blick Soigers entging.
Soiger hatte
seine eigenen Gedanken über die Vorfälle. Langsam wurde es ihm in der Nähe
seines Brötchengebers unheimlich. Immer dann, wenn Tullier auftauchte, war
etwas geschehen.
Die
Geisteskrankheit des Burgherrn schritt fort. Aber nur Soiger wußte davon.
Tullier
zeigte dem Burgaufseher den Geheimeingang, der in keinem von Schwarzenstein
existierenden Plan verzeichnet war. Wenn man den Mechanismus kannte, war es
kein Problem, in der gemauerten Wand den Durchlaß entstehen zu lassen. Bei
geschlossener Front ließ sich nicht der geringste Hinweis darauf finden, daß es
in dieser Mauer einen verborgenen Schlupfwinkel gab.
Tullier
atmete tief die sauerstoffreiche, frische Luft ein. »Ich zeige Ihnen die Kammer
ein andermal. Nicht jetzt. Die Weiße Frau geht um, Soiger«, sagte er mit
geheimnisvoller Stimme und einem flüchtigen Lächeln. »Ich hatte noch mal Glück.«
Er schüttelte den Kopf. »Die Treppe und das zur Treppe führende Gewölbe laufen
in genau entgegengesetzter Richtung zur Burg. Es liegt in einer Felsenkammer,
an einer Stelle, von der wir bisher annahmen, daß es dort nichts weiter gibt
als Felsen.«
Er erzählte
auch von seiner Entdeckung des unterirdischen Flußlaufes, wahrscheinlich einem
versprengten Seitenarm der Moder, von dem niemand etwas wußte.
»Ich bin
überrascht davon, daß man auf diesem Wasserweg hinüber zur Burg Wetterberg kam«,
fuhr Tullier leise fort. »Ein Fluchttunnel, vier Kilometer unter der Erde
angelegt, ein Verbindungsgang, der beiden Burgherren anfangs von Nutzen war.
Bis man sich zerstritt.«
Auf dem
normalen Weg verließen Soiger und Tullier das Felsengewölbe. Soiger sagte kein
Wort. Er machte einen bedrückten, niedergeschlagenen Eindruck.
Draußen war
die Wolkendecke wieder aufgerissen. Warmer Sonnenschein strahlte vom Himmel
herab. Die Luft roch frisch, die Erde dampfte.
André Soiger
war gerade damit beschäftigt, das schwere Tor zu schließen, als seine Frau über
den Burghof gelaufen kam und aufgeregt winkte.
»Schnell!«
rief sie. »Sie sind da.«
»Sind da?«
echote André Soiger. »Wer?«
»Der Bus! Die
Leute von der Vision-Tours.«
»Aber die
Herrschaften sind doch erst für heute abend angesagt«, wunderte sich Gerard
Tullier. Mit einer fahrigen Bewegung strich er durch sein schütteres, graues
Haar.
»Aber jetzt
sind sie eben heute schon gekommen«, entgegnete Marie Soiger nervös, die durch
diese Tatsache ebenfalls aus ihrem Konzept gebracht worden war.
»Aber warum?«
fragte Tullier. »Sie sollten laut Plan doch heute noch in Deutschland sein.«
»Es hat Krach
gegeben. Mit dem Burgbesitzer. Bei der Gesellschaft befindet sich eine gewisse
Mabel Sallenger. Ein Medium. Sie hat herausgefunden, daß es auf der Burg, auf
der sie gewesen sind, niemals gespukt hat. Das Ganze ist ein ausgemachter
Schwindel! Deshalb sind sie aufgebrochen. Miss Mabel Sallenger will bei Anbruch
der Dunkelheit auf Schwarzenstein ebenfalls eine Probe aufs Exempel machen,
vorausgesetzt, daß ihre medialen Kräfte sie nicht im Stich lassen. Sollte sich
herausstellen, daß auch Schwarzenstein kein echtes Spukschloß ist, dann werden
Sie wohl Ärger mit der Gesellschaft bekommen, Monsieur.«
Gerard
Tulliers Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Dies veränderte sein Gesicht so
sehr, daß Marie Soiger unwillkürlich erschrak. Zum ersten Mal fing auch sie an,
etwas von der Krankheit Tulliers zu ahnen.
»Wenn es
weiter nichts ist, dann wird sie voll auf ihre Kosten kommen«, murmelte Tullier
selbstvergessen. »Vielleicht wird es sie mit
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