060 - Jenseits der Dämmerung
Lastkarren geraten war. Dass sich niemand um die Leiche gekümmert hatte, war ein klares Zeichen für die Panik, die unter den Menschen geherrscht haben musste.
Während sie im Gepäck nach einer Fackel suchte, fragte sich Aruula unwillkürlich, was Aiko erlebt hatte, als die Crooches aus der Stadt flohen. Hatte er sich den anderen Menschen angeschlossen? Oder hatte er in Erfahrung gebracht, was ihr und Maddrax zugestoßen war, und befand sich nun auf der Suche nach ihnen?
Aruula fand eine Fackel mit Feuersteinen und legte beides auf die Tragfläche. Noch war sie unentschlossen, wie ihre nächsten Schritte aussehen sollten. Zurück zum Hafen gehen und nach Maddrax suchen? Aiko in der Stadt zu suchen schien nicht wesentlich aussichtsreicher. Am Vernünftigsten war es, wie abgesprochen bei den Gleitern zu warten, aber etwas in ihr sträubte sich dagegen. Es war der Teil, der bei jeder Tat und bei jedem Gedanken nachfragte, ob sie trotz oder wegen ihrer verlorenen Fähigkeiten so handelte.
Wollte sie vielleicht nur bei den Gleitern bleiben, weil sie zu unnütz und feige war, um etwas allein zu unternehmen? Hatte sich Maddrax deshalb von ihr getrennt: weil er wusste, dass er nicht mehr auf sie zählen konnte?
Unsinn, sagte ein anderer Teil, aber seine Stimme war leiser und weniger eindringlich als die des anderen, und sie war nur zu hören, wenn man sich konzentrierte.
Aruula massierte sich die Schläfen mit den Fingern. Sie war es satt, ihre Handlungen und ihren Mut ständig zu hinterfragen. Früher hatte sie sich rein auf ihren Instinkt verlassen und nie darüber nachgedacht, aus welchen Beweggründen sie handelte. Jetzt war das anders, denn die Angst, in eine Situation zu geraten, die sie nur durch Lauschen bewältigen konnte, war ihr steter Begleiter.
Ich muss daraus ausbrechen, dachte sie, ohne zu wissen, wie ihr das gelingen sollte.
Das Klappern einer Tür befreite sie von diesen Gedanken.
Aruula griff nach ihrem Schwert und stellte sich so, dass sie den Gleiter im Rücken hatte. Die Fackel ließ sie unangezündet auf der Tragfläche liegen. Damit hätte sie nur ein besseres Ziel abgegeben.
Sie hörte Schritte im Matsch, dann eine Stimme. »Hallo?«
Sie klang hell und ein wenig zitternd, als müsse die Frau, die das Wort gesagt hatte, mühsam ihr Weinen unterdrücken.
Aruula kniff die Augen zusammen, um die Gestalt, die neben der Scheune auftauchte, besser erkennen zu können. Sie trug einen Umhang mit Kapuze, schien unbewaffnet zu sein und kam langsam näher.
»Was willst du?«, fragte Aruula.
Die Frau hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Es ist niemand da, alle haben Angst, aber ich muss sie doch finden.«
»Wen musst du finden?«
»Meine Familie… sie sollten auf die Boote, aber sie waren zu spät. Deshalb bin ich zurückgekommen, um nach ihnen zu suchen. Aber ich finde sie einfach nicht!«
Ihre Stimme überschlug sich fast. Aruula glaubte die Verzweiflung der Frau zu spüren.
Deutlich sichtbar senkte sie ihr Schwert. »Ich bin fremd hier«, sagte sie. »Bitte erzähl mir, was passiert ist.«
»Es sind Dämonen! Sie kommen aus der Tiefe und nehmen die Gestalt von Mols an. Draußen auf dem Meer ist man vor ihnen sicher, deshalb fliehen wir in Booten, wenn die Crooches uns vor ihrer Ankunft warnen. So war es heute auch, aber mein Mann kam mit den Kindern nicht mehr rechtzeitig zum Boot, deshalb bin ich zurückgekommen. Vielleicht haben die Dämonen sie bereits in die Unterwelt verschleppt, aber das ist mir egal. Ich will sie nur finden.«
Orguudoo, dachte Aruula schaudernd. Der Gott der Unterwelt konnte in verschiedenen Gestalten auftreten und war dafür bekannt, dass er die Menschen hasste und terrorisierte.
Sie bewunderte den Mut dieser Frau, die bereit war, sich ihm zu widersetzen.
»Du bist sehr mutig«, sagte Aruula.
»Nein, ich will nur zurückfordern, was mir genommen wurde.« Bescheiden senkte sie den Kopf. »Verzeih, aber die Nacht ist nicht mehr lang. Ich muss mich beeilen.«
Sie wandte sich ab und ging auf eine schmale Gasse zu. Aruula sah ihr nach, war beeindruckt von ihrer Entschlossenheit und der stillen Würde, die sie im Angesicht einer so schweren Aufgabe behielt.
Sie hat alles verloren und macht doch weiter, während du dich in ein Loch verkriechst, flüsterte die böse innere Stimme. Du solltest dich schämen.
»Warte!« Aruulas Ruf war spontan. Sie griff nach Fackel und Feuersteinen und folgte der Frau in die Gasse. Die war stehen geblieben und sah ihr entgegen.
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