0605 - Der Horror-Engel
zu.
Nur für ein paar Sekunden überlegte Zamorra, ob es sinnvoll war, sich zur Wehr zu setzen.
Aber der Ärger konnte nur noch größer werden.
Wichtig war, daß sie sich immerhin wieder im Randgebiet der Zivilisation befanden und nicht am Rande des Verdurstens.
Eine Nacht in einer Zelle ließ sich da noch ertragen.
Und wenn sie morgen nach Alice Springs gebracht wurden, würde dort ohnehin alles ganz anders aussehen.
Er hoffte sogar, daß Stevens doch noch nachforschen würde, um zu erfahren, was es mit dieser Ausweisnummer auf sich hatte.
Derweil landeten sie in einer brütend heißen Zelle in einem Wellblechanbau.
»Ganz im Vertrauen«, sagte Nicole. »Ich hätte dir auch kein Wort geglaubt…«
***
Shado fragte sich, was er tun sollte. Daß sein Mentor aus der Traumzeit, Kanaula, ihm den Mann mit den Flügeln gezeigt hatte, mußte einen Grund haben. Und auch, daß Shado Professor Zamorra gesehen hatte.
Aber was konnte er, Shado, gegen eine Entität ausrichten, die die Traumzeit störte?
Hatte Kanaula ihm deshalb Zamorra und seine Gefährtin Nicole gezeigt? War es ein Hinweis darauf, daß sich Shado mit den beiden in Verbindung setzen sollte? Daß er mit ihnen zusammenarbeiten sollte?
Er ließ sich im Lotussitz mitten in seiner Einzimmer-Wohnung im Zentrum der Millionenstadt Sydney nieder. Die Wandbemalung ihm gegenüber zeigte den ›brennenden Berg‹.
Nachdenklich betrachtete er das Bild, ohne es wirklich richtig wahrzunehmen. Traum und Wirklichkeit vermischten sich. Er entsann sich, den großen Sandsteinfelsen auch im Hintergrund gesehen zu haben, als Kanaula ihm die verschiedenen Personen gezeigt hatte.
Bedeutete das, daß Zamorra und Nicole sich hier in Australien befanden?
Er streckte die Hand nach oben und schnappte nach dem Telefon, das an einer Schnur von der Zimmerdecke herabbaumelte.
Er tippte auf eine Kurzwahltaste und wartete.
Es dauerte einige Zeit, bis die Verbindung zustandekam.
Auch im Zeitalter des Satellitenfunks war jede Telefonverbindung immer nur so gut oder so schlecht wie die Festnetzleitungen, durch die sie schließlich liefen.
In Frankreich, im Château Montagne, meldete sich der alte Diener Raffael Bois, nur konnte der Shado auch nicht sagen, wo Professor Zamorra sich aufhielt.
»Der Professor hat sich einen Urlaub in den Vereinigten Staaten genehmigt und ist auf einer Reise, bei der er jeden Tag spontan neu entscheidet, wohin er sich wendet, aber telefonisch ist er unterwegs auch nicht erreichbar.«
USA?
Nicht erreichbar?
»Falls Professor Zamorra sich seinerseits bei Ihnen meldet, Mr. Raffael, richten Sie ihm bitte aus, er möge sich umgehend mit mir in Verbindung setzen. Es ist vermutlich wichtig.«
Er klinkte den Hörer wieder in die Halterung des an der Schnur schwebenden Telefons, das eigentlich ein Wandgerät war. Aber an den Wänden von Shados kleiner Hochhauswohnung hingen ganz andere Dinge. Dinge, zu denen dieses Produkt moderner Fernsprechtechnik nicht ganz passen wollte.
Shado war ein Mann zwischen zwei Welten. Er gehörte dem Volk der Yoln-gu-Aborigines an, und so oft wie möglich verließ er auch mit seinem kleinen Flugzeug Sydney, um mit den anderen seines Clans zu wandern, die alten Plätze aufzusuchen und die Traditionen zu pflegen.
Aber er kam auch bestens in der Zivilisation der Weißburschen zurecht. Er hatte dort einen gut bezahlten Job, der ihm Spaß machte, und er zog damit den Neid vieler Weißer auf sich, die nicht so leicht akzeptieren wollten, daß ein Schwarzer ebensoviel konnte wie sie selbst.
Noch immer gab es die Kluft zwischen Schwarz und Weiß, wenn auch heute Aborigines nicht mehr wie Tiere gejagt und abgeschossen wurden. Immerhin erkämpften sie sich mehr und mehr Rechte - sehr zum Mißvergnügen vieler Weißer.
So, wie Shado zwischen zwei Welten lebte und an einem Tag im Nadelstreifenanzug im Großstadt-Büro auftrat, am anderen Tag als nackter, bemalter ›Wilder‹ durchs Outback strolchte, so traf man auch in seiner Wohnung beide Welten vor. Das Einfache, ›Primitive‹, aber auch Kühlschrank und Telefon.
Indessen dominierte zumindest in seiner Wohnung das Einfache, um einen Ausgleich zu schaffen zum Büro, in dem nur die technisierte Hälfte seiner Seele einen Platz haben durfte.
Shado überlegte. Es gab vielleicht eine Möglichkeit, von seiner Seite her mit Zamorra in Kontakt zu treten. Allerdings hatte er es in dieser Form noch nie ausprobiert.
Er wollte versuchen, Zamorra zu sich zu träumen!
Shado besaß die
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