0608 - Das Böse kommt
ich davon ausgehen, daß dieser Baum – eine Eiche – bestimmt einige Jahrhunderte auf dem Buckel hatte.
Eine Eiche steht für Ausdauer, für Stärke und Lebenskraft. All dies brauchte ich auch, denn mittlerweile war ein Verdacht in mir hochgekeimt, daß einiges anders ablaufen würde, als ich es mir noch vor wenigen Stunden vorgestellt hatte.
Da der Baum nicht zu übersehen war, suchte ich ihn als mein Ziel aus.
Wieder fuhr mir der leichte Nachtwind entgegen und kämmte das Gras, durch das ich schritt.
Aus dem irgendwie schon kahlen Geäst des Baumes lösten sich drei Schatten. Dunkle Vögel, Raben oder Krähen, stießen hinein in die Finsternis, als wären sie von der gewaltigen Öffnung eines Sacks aufgefangen worden.
Mir trieb ein herbstlicher Geruch entgegen. Es »duftete« nach feuchtem Laub und verwelkten Blumen. Die Natur würde bis zu ihrem Erwachen ein paar Monate Winterschlaf einlegen.
Wenn ich ehrlich gegen mich selbst war, erweckte der Standort des Baumes in mir bestimmte Erinnerungen. Bäume an derart exponierten Plätzen besaßen oft genug bestimmte Bedeutungen. An ihren starken Ästen hatte man früher Menschen aufgehängt, sie waren zu Stätten des Todes und des Grauens geworden. Um sie hatten sich Legenden gebildet, alte Mysterien und Sagen, die sich die Jahrhunderte hinweg gehalten hatten und von Generation zu Generation weitergegeben worden waren.
Ich war mir mittlerweile sicher, daß dieser Baum eine bestimmte Bedeutung für mich haben würde. Deshalb ging ich schneller, ohne allerdings die Vorsicht außer acht zu lassen.
Meine Füße schleiften durch das Gras. An den Schuhen klebten die nassen Halme. Völlig normale Dinge, die auch in meiner Zeit hätten passieren können.
Der Hügel war sehr flach, ich brauchte mich nicht anzustrengen, spürte aber plötzlich einen Windstoß, der sogar hoch über mir die Decke der Wolken aufriß, so daß dort ein Loch entstand.
Wie unter Zwang schaute ich in die Höhe, um mir dieses Loch genauer zu betrachten.
Es wirkte wie eine hellgraue Insel inmitten der Wolkenschwärze.
Schwach und sehr weit im Hintergrund schien ein fahles Licht, wahrscheinlich abgegeben durch den blassen Mond, der sich jetzt einfach nicht mehr verbergen konnte.
War es Zufall oder ein bestimmter Grund gewesen, daß dieses Loch entstanden war?
Zufälle akzeptierte ich nur selten. Möglicherweise wollte man mir damit ein Zeichen geben.
Das Loch befand sich, wenn ich richtig rechnete, direkt über der gewaltigen Eiche. Zwar sickerte aus ihm kein Licht auf den Baum, er war trotzdem deutlicher zu erkennen. Die Dichte seines Astwerks lockerte sich auf. Es waren mehr blasse Lücken entstanden, beides in unterschiedlicher Größe, und ich sah in einer dieser Lücken einen Gegenstand, der meiner Ansicht dort nicht hingehörte. Wie ein Fremdkörper wirkte er.
Aus einer gewissen Distanz hätte man es für einen ungewöhnlich gewachsenen Ast halten können. Das aber war es nicht.
Dieser Gegenstand besaß eher den Umriß eines Menschen, der in diese Lücke hineinhing und sich im Wind bewegte, denn seine Beine pendelten hin und her.
Ich räusperte mich, schaute mich um, sah Bäume und Buschwerk als unegale, finstere Wand und wandte mich wieder dem Baum zu, von dem mich nicht mehr als zehn Schritte trennten.
Je näher ich kam, um so deutlicher veränderte sich die Perspektive. Was dort aus dem Geäst nach unten hing, schwang nicht sehr weit über dem Grund, und ich sah die beiden Gegenstände, die durch den Wind unterschiedlich rasch und in wechselnde Richtungen bewegt wurden.
Das waren Beine…
Mein Verdacht manifestierte sich zur Gewißheit. In dem Geäst hing ein Mensch! Ich strich mit der Hand über den Hals, als könnte ich dort die Reste einer geknüpften Hanfschlinge abstreifen.
Vor dem Gehängten blieb ich stehen und mußte mich korrigieren.
Er hing doch höher, als ich gedacht hatte. Wäre ich noch einen Schritt vorgegangen, hätten seine nackten Füße meine Stirn berührt.
Genau diese Füße waren es, die mich interessierten. Auch in der Düsternis fielen mir die dunklen Streifen auf. Als ich nachleuchtete, wußte ich Bescheid.
Die dunklen Streifen waren Blut, das aus zahlreichen Wunden geflossen war und nun eine Kruste gebildet hatte.
Ich dachte an Lorenzo. Man hatte mir erklärt, daß er gefoltert worden war. Sollte dieser Tote tatsächlich der Mann sein, der so viel über die Templer wußte?
Wieder passierte etwas.
Aus der Höhe drangen mir ein Wimmern und
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