061 - Medusas steinerne Mörder
Geheimtunnel hörte sich geisterhaft an. Die ganze
Szene war gespenstisch und wurde es noch mehr, als das Ende des Stollens nahte.
An den rauhen Felswänden links und rechts brannten Fackeln. Die verrückte
Gräfin nahm eine nach der anderen aus der Halterung und löschte sie. Noch zehn
Schritte waren es bis zur steilen Treppe. Insgesamt siebzig Stufen führten nach
oben. Dort brannte eine letzte Fackel. Die Frau hatte nach dem Weg durch den
Stollen sichtlich Schwierigkeiten, die Treppen aufwärts zu gehen. Sie schwankte
und geriet außer Atem. Morna stützte sie. Die Frau fühlte sich leicht wie eine
Feder an, war aber sehr schwach, und es schien ein Wunder, daß sie solange
durchgehalten hatte. Taumelnd kam sie auf der obersten Stufe an und löschte
auch hier die Fackel, ehe sie einen geheimen Mechanismus benutzte, der in der
Mauer vor ihnen eine geheime Öffnung freilegte. Durch den entstehenden Spalt
fiel schwacher Lichtschein. Er kam aus dem Kellergewölbe des Schlosses, in dem
sie angelangt waren. Luise Gräfin von Bernicz drückte auf einen quer nach
außenstehenden Quader, und die Öffnung verschloß sich knirschend. Morna folgte
der Frau durch mehrere Gewölbe. Es ging viele Stufen nach oben, und die beiden
Frauen kamen in einer anderen Kelleretage an. Das Licht stammte von den
Fackeln, die in dem vor ihnen liegenden Gewölbe an den Wänden hingen. Morna
hatte ihre Taschenlampe längst ausgeschaltet. Luise Gräfin von Bernicz konnte
sich vor Schwäche kaum noch auf den Beinen halten. Sie erreichten einen
Durchlaß. Dahinter lag ein Gewölbe, das Morna Ulbrandson drastisch vor Augen
führte, daß sie an ihrem Ziel angekommen war, und sich in der Höhle des Löwen
befand! Vor ihr standen mehrere Gestalten… Statuen. Ein Kabinett Versteinerter!
Medusas Schreckens-Panoptikum! Morna Ulbrandson wagte kaum zu atmen, die
Laserwaffe lag schußbereit in ihrer Hand. Die Schwedin wußte, daß der steinerne
Tod sie augenblicklich ereilte, wenn Medusa unerwartet auftauchte. In dem Moment, da sie das Schreckenshaupt sah,
war es auch schon zu spät. »Luise!« flüsterte sie und faßte die grazile Frau am
weiten Ärmel ihres locker fallenden Kleides. »Wo ist sie… wo ist die Frau, die
dieses Kabinett eingerichtet hat? Wo ist der Operationssaal? Weißt du das?«
»Alles
hier unten… aber ich muß gehen… kann nicht bleiben…« Sie war sprunghaft und
unberechenbar in ihrem Wesen. Dies hatte Morna im positiven wie im negativen
Sinn zu spüren bekommen. Sie wankte in das Halbdunkel der Gänge und Durchlässe,
und Morna blieb ihr auf den Fersen. Die Agentin achtete auf jedes Geräusch,
jeden Schatten, der sich bewegte. Und das waren bei den unruhig blakenden
Fackeln viele. Da vernahm sie eine leise Stimme.
»Du
darfst nicht mehr länger warten… du mußt mir sofort einen neuen Körper geben.
Begeh diesmal nicht den gleichen Fehler. Lerne daraus…«
»Ich
habe schon gelernt…«, antwortete eine dunkel klingende, männliche Stimme. »Die
Zeiträume werden immer größer… bald wird es mir gelingen, dir für immer einen
Körper zu schenken.«
Morna
Ulbrandson begab sich in den Schatten einer riesigen Säule und blickte in ein
Gewölbe. Dies unterschied sich von den anderen, die sie bisher gesehen hatte,
dadurch, daß eine Wand geöffnet war. Steine waren herausgebrochen und an der
Seite aufgeschichtet. Unterhalb dieser Stelle stand eine primitive Bahre. Vor
der Bahre, das Gesicht der aufgebrochenen Wand zugewandt, stand eine Frau. Sie
trug ein Kopftuch und hielt die Hände wie beschwörend von sich. Am Kopfende der
Bahre verharrte eine Statue, auf ihren Armen eine bewußtlose Frau.
Das
Mädchen aus dem Bauernhaus, Marie! Und der Versteinerte war niemand anders als
Paul Graf von Bernicz. Medusa unterhielt sich mit einem Unsichtbaren! Mit einem
Geist… »Der Körper ist da… warte nicht länger… ich fühle, wie meine Kräfte mich
verlassen. Und dies, Dracula, kann auch nicht in deinem Sinn sein. Wir haben
eine Vereinbarung getroffen. Dieses Schloß ist groß genug für uns beide, und
jeder wird seine Opfer finden, jeder auf seine Weise. Du wirst wieder Blut
haben und durch die Nächte streifen können. Ich werde die Gewölbe mit den
Menschen füllen, die mich sehen oder bekämpfen wollen… Kampf war stets mein
Metier und wird es immer bleiben.« Da geschah das Unerwartete. Die Überraschung
war selbst für die aufmerksame Schwedin perfekt. Sie nahm die Bewegung hinter
sich zu spät wahr. Eine Hand sauste vor ihrem
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