0621 - Die Vergessene von Avalon
hatte die Acht schon losgehackt und nahm mir zuerst den linken Arm des Ausbrechers vor. Das Anlegen der Handschellen lernt man im Laufe der Zeit, auch mir bereitete es keinerlei Schwierigkeiten, ihm die stählerne Acht umzulegen. Er stand in einer ungewöhnlich geraden Haltung vor mir, die Hände auf dem Rücken, den Kopf in den Nacken gelegt, den Blick gegen die Decke gerichtet, die irgendwo im Dämmer einfach verschwand.
»Okay, Fuller.« Sicherheitshalber klopfte ich ihn nach weiteren Waffen ab, fand jedoch keine.
»Bulle, die Karten sind noch nicht ausgereizt!« flüsterte er.
»Für dich schon.«
Da lachte er nur. Möglicherweise auch deshalb, weil er, ebenso wie ich, Schritte gehört hatte.
Nicht sehr normal klingende, sondern schlurfende Schritte von einer vierten Person.
Ich drehte mich um, Loraine ebenfalls.
Beide sahen wir die Gestalt.
Sie schlich durch das Gewölbe, war nackt bis auf ein weißes Tuch oder Totenhemd, das sie vor ihrem Körper hielt, und umklammerte mit der rechten Hand den Griff des Messers, das einmal Brian Fuller gehört hatte…
***
Wir alle waren konsterniert! Selbst das dunkelhaarige Mädchen, das jenseits der Lichtinsel stand und dessen Körper einen bizarren Schatten warf, rührte sich nicht mehr von der Stelle. Es war stehengeblieben und wartete ab.
Auch Loraine, die nicht auf den Mund gefallen war, schwieg. Mit dieser Wendung hatte selbst sie nicht gerechnet.
So also sah die Person aus, die nach mir gesucht hatte. Eine Vorstellung von ihr hatte ich mir nicht gemacht, trotzdem war ich von ihrem Anblick überrascht worden. Sie machte auf mich einen ängstlichen Eindruck, wirkte wie zusammengezogen und hatte auch das lange Hemd ängstlich vor ihrem nackten Körper zusammengerafft.
Das Messer gefiel mir nicht. Sie hielt es mit der Klinge nach unten und hatte es wahrscheinlich nur durch einen Zufall gefunden.
Sehen konnte sie mich nicht, höchstens fühlen. Ihre Augen kamen mir vor wie graue Teiche, in denen sich kein Leben mehr abzeichnete. Wenn sie unser Gespräch verfolgt hatte, war sie auch über die Dinge informiert, nur wollte ich mehr von ihr wissen und sprach sie mit leiser Stimme an:
»Wir sehen dich, Melusine. Du hörst jetzt meine Stimme. Hörst du sie, dann gib Bescheid.«
Sie nickte.
Mir fiel ein kleiner Stein vom Herzen. »Okay, Melusine de Lacre, okay. Du hast mich gesucht, jetzt hast du mich gefunden, denn ich, John Sinclair, spreche zu dir. Ich bin John Sinclair, den du so sehr gesucht hast.«
Ich war gespannt darauf, wie meine Worte wirken würden und sah sie zögernd nicken.
»Aber wer bist du? Ich kenne nur deinen Namen Melusine de Lacre. Was steckt hinter dir? Welch eine Vergangenheit hast du? Das will ich von dir wissen.«
Selbst Loraine und ihr Freund Fuller konnten sich dem gespannten Reiz der Lage nicht entziehen. Sie warteten gespannt auf eine Antwort. Melusine ließ sich Zeit. Zunächst bewegte sie nur ihre Lippen, ohne etwas zu sagen, dann drang ein Zischen aus ihrem Mund, und schließlich flüsterte sie die Antwort.
Ich mußte schon sehr genau hinhören, um sie überhaupt verstehen zu können.
»Ich bin die Vergessene aus Avalon. Und dich, John Sinclair, habe ich gesucht!«
Was bisher nur Vermutung gewesen war, bekam ich nun bestätigt.
Sie war eine junge Frau, sie stammte aus Avalon, dieser geheimnisvollen, sagenhaften Insel des Lebens, obwohl man sich dorthin zurückzog, um Sterben zu wollen.
Avalon bestand für mich aus Rätseln. Bisher hatte ich mich damit nicht beschäftigt, doch ich hatte gewußt, daß ich irgendwann einmal damit konfrontiert werden würde.
Nun war es soweit.
Avalon, ich dachte darüber nach, und mir fiel ein anderer Begriff ein, der sich ähnlich anhörte.
Aibon…
Konnte es sein, daß beide Begriffe oder Reiche in einem Zusammenhang standen?
Ich wischte die Gedanken weg, weil ich mich auf näherliegende Dinge konzentrieren wollte. Alles andere lag im verschwommenen Nebel der Zukunft, die Gegenwart interessierte mich mehr.
»Du hast mich gesucht und gefunden. Was ist der Grund dafür? Willst du ihn mir jetzt nennen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht.«
»Hängt es mit deiner Blindheit zusammen?«
»Vielleicht.«
Ich ließ sie nicht in Ruhe und wollte wissen, weshalb sie sich ausgezogen hatte.
»Ich muß das Kleid der Reinheit überstreifen. Nur wenn ich dieses Kleid trage, kann mir der Weg nach Avalon geöffnet werden. Du bist da, das Kleid ist da. Meine Eltern haben es für
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