0621 - Die Vergessene von Avalon
trockene Kleidung, sonst holen Sie sich wirklich noch eine Lungenentzündung.«
»Das meine ich auch.«
»Dann sollten wir keine Zeit mehr verstreichen lassen, Brian.« Sie streckte dem Mann ihren rechten Arm entgegen. »Wenn Sie mir hochhelfen würden, bitte?«
»Aber immer doch.« Brian ergriff ihre Hand und zog sie auf die Beine. Sein stoppelbärtiges Gesicht, das bisher von der Erschöpfung gezeichnet gewesen war, hatte einen anderen Ausdruck bekommen.
Auf ihm schien die Sonne aufgegangen zu sein, denn es zeigte ein Strahlen wie lange nicht mehr.
Sie stand vor ihm. Sekunden vergingen. Zum erstenmal bekam Fuller Gelegenheit, sich seine neue Bekanntschaft aus der Nähe anzuschauen. Langes, schwarzes Haar, ein schmales Gesicht, ein voller Mund, auch eine hübsche Nase, doch was ihre Figur anging, so konnte er nichts sehen. Die war unter der dicken Winterkleidung versteckt.
»Darf ich dir meinen Arm reichen?«
»Gern.« Melu schob ihre Hand in die Armbeuge des Ausbrechers, der es nicht fassen konnte, daß ihm das Schicksal einen derart positiven Streich gespielt hatte.
Er hatte in der Nacht schon mit dem Leben abgeschlossen gehabt.
Immer wieder erinnerte er sich an die mörderische Wasserhölle, die zuerst mit ihm gespielt hatte und später über ihm zusammengebrochen war. Als Vernichter und Zerstörer. Sie hatte alles zertrümmert, aber er war ihr entkommen.
Manchmal konnte das Leben wunderbar sein. Fuller mußte einfach mit seinen Gefühlen heraus. Er lachte einmal, noch einmal, viel lauter, an seine Taten dachte er nicht.
»Was hast du?« fragte Melu leise.
»Ich freue mich eben über diesen herrlichen Tag.«
Das Mädchen nickte. »Ja, ich mag es auch, wenn die Sonne scheint. Selbst im Winter ist sie wunderschön. Ich mag ebenfalls das Lachen der Menschen, wenn sie glücklich sind. Bist du in diesen Augenblicken richtig glücklich?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Ich gönne es dir. Selbst ich erlebe mehr glückliche als depressive Stunden.«
»Da kann man dich nur bewundern. Wenn ich blind wäre, würde ich mir vorkommen wie in einem gewaltigen Gefängnis, weißt du. In einem Zuchthaus ohne Mauern, gefangen in der Dunkelheit. Ich… ich würde umherrennen und mich irgendwann umbringen.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Nein, das darfst du nicht so sehen, Brian.« Sie war ebenfalls zum Du übergegangen. »Es ist ganz anders, wenn man als Blinder lebt. Du siehst die Welt trotzdem, nur eben nicht mit deinen eigenen Augen. Sie ist um dich herum, sie hat sich ja nicht verändert. Auch als Blinder kannst du sie erfahren und durchforschen, du darfst dich eben nicht nur auf deine Augen verlassen.«
Er hob die Schultern. »Da kann ich nicht mitreden, Lady, wirklich nicht.«
»Ich bewege mich wie ein normaler Mensch durch mein Haus. Ich weiß, wo alles steht. Ich gehe auch in das Gewölbe.«
»Gewölbe?« Er blieb stehen.
Auch Melu stoppte. »Ja«, erwiderte sie, den Kopf in den Nacken legend. »So nenne ich unseren großen Keller. Es ist ein richtiges Gewölbe, hineingeschlagen in den harten Fels der Klippen.«
»Wie du meinst.«
Sie gingen weiter. In den nächsten Minuten von ihrem Schweigen begleitet, und Fuller bekam die Chance, sich umzuschauen.
Dieses Stück Küste war nicht so steil wie am Gefängnis. Die Hänge fielen sanft zum Meer hin ab; sie waren leicht zu durchwandern.
Weiter hinten führte eine schmale Straße vorbei. Hin und wieder war das Geräusch der fahrenden Autos zu hören. Mächtige, aber krumm gewachsene Laubbäume schirmten die Straße ab. Manche von ihnen sahen aus wie Kunstwerke, die sich im Laufe der Jahrhunderte dem Wechselspiel der Natur entgegengestellt hatten.
Reiseführer bezeichneten diesen Teil als wildromantisch. Ein Dorado für Wanderer und Naturliebhaber, denn die Waldflächen lagen oft dicht zusammen. Dörfer gab es kaum, mehr einsam stehende Häuser, früher als Landsitze benutzt.
»Wie weit müssen wir noch gehen?« fragte Fuller.
Melu hob die Schultern. »Wenn du auf der rechten Seite ein wei ßes Haus siehst, sind wir da.«
»Weiß?«
»Ja, aus Holz gebaut. Ich habe es so in Erinnerung. Wahrscheinlich ist es jetzt ausgebleicht worden.«
»Kann sein. Und du lebst dort wirklich allein?«
»Hm…«
Brian Fuller konnte es nicht glauben. Er stellte keine weiteren Fragen mehr, behielt aber seine Vorsicht bei, denn er wußte genau, daß man ihn suchen würde.
Auf dem Wasser hatte er bisher kein Küstenboot entdecken können. Vielleicht suchten die Bullen ganz
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