0624 - Der Schädel des Riesen
den Kessel geschritten und hatten seine Magie voll mitbekommen. Überhaupt, wenn Kara nicht gewesen wäre, hätte ich das alles nicht zu Gesicht bekommen und wäre auf der Nebelinsel verschollen geblieben.
Am Ohr rutschte ich weiter in die Tiefe. Der Kopf stand auf einem Podest. Eine hohe, viereckige Steinplatte, die man damals extra für ihn errichtet hatte.
Bisher hatte ich nur auf seinem Schädel gesessen und nichts von seinem Gesicht gesehen. Ich war neugierig darauf, ob es ebenso aussah wie das des Riesen, den ich kannte.
Als normal alter Mensch wäre ich rascher an der Seite des Kopfes herabgeklettert, jetzt allerdings hatte ich meine Mühe, rutschte auch einige Male ab, konnte mich wieder fassen und ließ mich dann nach unten fallen. Sicher kam ich auf.
Auf meine Umgebung hatte ich während der Kletterei nicht achten können. Deshalb war mir auch nicht aufgefallen, daß sich ein besonders großes Tier lautlos von seinem Beobachtungsposten zurückgezogen hatte.
Keine Ratte, sondern eine Wölfin…
Ich war zunächst einmal froh, auf der Plattform Halt bekommen zu haben und wartete, bis das Zittern – eine Folge der anstrengenden Kletterpartie – vorbei war.
Erst dann schaute ich zum Wald hin, der eine Kulisse der Verwüstung bildete.
Zwei Stürme hatten ihn nicht geschont, und ein dritter war bereits angekündigt worden.
Den Gral stellte ich ab. Plötzlich kam er mir nutzlos vor. Ich hatte irgendwo das Vertrauen in ihn verloren und hätte ihn sogar aus der Hand gegeben.
Mit einem Sprung erreichte ich den normalen Waldboden. Auf der weichen Erde federte ich nach, entfernte mich einige Schritte vom Schädel und drehte mich dann um.
Ich schaute ihn von vorn an.
Ja, das war er!
Auch wenn der Riesenkopf als steinernes Denkmal vor mir stand, zeigten seine Gesichtszüge kaum Unterschiede zu dem mächtigen Schattenreiter, den ich kannte.
Nur hielt er die Augen geschlossen, ebenso wie den breiten Mund, bei dem mich die Lippen an erstarrte Wellen erinnerten. Wie ein klotziger Vorbau stand die Nase darüber. Wer den Schädel nicht kannte und ihn zum erstenmal sah, konnte Furcht bekommen.
Ich wollte wieder Kontakt mit Brân aufnehmen. Das hatte er gespürt, denn er trat zuvor mit mir in Verbindung.
»Jetzt siehst du mich, Sinclair.«
»Richtig, und ich stelle fest, daß du mich nicht angelogen hast, Riese.«
»Warum hätte ich das tun sollen?«
»Ich weiß es nicht. Es ist mein Mißtrauen demjenigen gegenüber, der ein Spiel treibt, das ich nicht durchschaue. Du bist weder Mensch noch Dämon. Du bist vielleicht eine Mischung aus beiden. Jedenfalls bist du eine Gestalt, Brân.«
»Ein Mythos!« korrigierte er mich.
»Vielleicht auch das. Ein Mythos, der lebt, der in verschiedenen Ebenen existieren kann, der…«
Meine Stimme verstummte, weil ich etwas gehört hatte, das mir überhaupt nicht gefiel.
Die trampelnden Echos zahlreicher Füße auf dem weichen Waldboden. Menschen hatten sie nicht hinterlassen, das mußten Tiere gewesen sein, und mir fielen sofort die Ratten ein.
Ich drehte mich um.
Sie hockten vor mir und beobachteten mich. Ich zählte rasch. Bei zehn hörte ich auf. Mein Herz klopfte viel schneller als gewöhnlich, und die Ratten selbst erinnerten mich an eine schaurige Bühnendekoration.
Sie gegen mich!
Sollte ich auflachen vor Galgenhumor? Nein, das blieb mir im Halse stecken. Die verfluchte Rattenplage war immer schneller als ich.
In der Beretta steckten zwar die geweihten Silberkugeln, alle Tiere würde ich damit nicht erledigen können, zudem mußte ich auch mit Fehlschüssen rechnen.
Ob Brân mich mit seinen nächsten Worten verspotten wollte, konnte ich auch nicht sagen. Jedenfalls hörte ich die Stimme, wie sie durch mein Gehirn klang.
»Du könntest versuchen, von meinem Blut zu trinken. Es sind noch Reste vorhanden. Vielleicht wird dein Körper ebenfalls zu einer gewaltigen Größe heranwachsen.«
»Danke, darauf möchte ich gern verzichten.« Ich flüsterte die Antwort, wobei mir zwei Schweißtropfen von der Oberlippe her in den Mund rannen, und ich den salzigen Geschmack schmeckte.
Noch taten die Ratten nichts. Sie hockten da, hatten sich auch günstige Deckungen gesucht und warteten darauf, daß ich etwas unternahm.
Meine Hand näherte sich der Beretta. Ich schaute auch auf den Gral, der so still auf der Plattform stand und überhaupt nicht reagierte. Die Kugel kam mir vor wie ein sehr großer Tropfen Blut, der die Öffnung voll ausfüllte.
Ich zog die Waffe.
Oft
Weitere Kostenlose Bücher